Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)
Wäscheleinen zu fristen.
Und etwas anderes war ihr auch klargeworden: dass sie Bottighofen nicht deshalb verlassen hatte, weil sie singen wollte, sondern dass es umgekehrt war – dass sie singen wollte, um sich von Orten wie Bottighofen fernzuhalten. Es war gar nicht wahr, dass Laura in ihrem Leben ein großes Ziel verfolgte; sie hatte nur immer gewusst, was sie nicht wollte. Sie hatte kein folgsames Kind sein wollen und kein liebreizender Backfisch, keine begehrenswerte Braut und keine zuverlässige Gattin, keine umsichtige Hausfrau und keine treusorgende Mutter – nur deshalb hatte sie sich immer aufs Treppchen gesetzt und gesungen.
Sämtliche Marionettenrollen hatte sie abgelehnt, welche die Welt für sie bereitgehalten hatte, darin war sie unbeugsam und stark gewesen. Sobald sie sich aber eine eigene, ihr gemäße Rolle auf den Leib schreiben sollte, war sie ratlos, wie übrigens die meisten Menschen, und überließ sich der Macht der Umstände, indem sie von Tag zu Tag den Alltag meisterte, so gut es eben ging.
So blieb Laura d’Oriano Jahr um Jahr im Hutgeschäft der Maria Juarez und verkaufte Hüte an Ausländer, und alle paar Monate sang sie in einem Nachtcafé in der Verkleidung von Svenja, Carmen oder Aisha. Gemessen an den Ambitionen ihrer Jugend war das eine Niederlage, wenn auch eine elegante; denn immerhin schuldete Laura niemandem Rechenschaft über die Farbe ihrer Unterwäsche und war sie frei, jederzeit zu gehen, wohin sie wollte. Kein Mensch hielt sie fest, niemand knebelte oder band sie – allerdings musste sie genaugenommen eher froh sein, dass man sie nicht fortschickte, denn die Zeiten waren hart. Die Nachtcafés hatten kaum noch zahlende Gäste und das Hutgeschäft der Maria Juarez machte immer weniger Umsatz.
Das änderte sich schlagartig im Sommer 1940, als die Stadt plötzlich überquoll von Menschen aus aller Herren Länder. Nach dem Überfall der Wehrmacht auf Nordfrankreich waren Millionen Franzosen in die sogenannte freie Zone geflüchtet und mit ihnen mehrere hunderttausend Naziflüchtlinge, die zuvor in Nordfrankreich Zuflucht gefunden hatten und jetzt in den Süden drängten auf der Suche nach einem Schiff, das sie vor den Mördern über den Ozean in Sicherheit bringen würde.
Mit jedem Eisenbahnzug, der aus dem Norden im Bahnhof Saint-Charles eintraf, ergoss sich ein Strom von Neuankömmlingen über die große Freitreppe hinunter in die Canebière. Nur wenige waren elegant gekleidet und ließen sich ihre Koffer von uniformierten Trägern zu den Taxis tragen, die meisten hatten abgetretene Schuhe an den Füßen und ausgebeulte, mit Hanfschnüren zusammengebundene Pappkoffer unter den Armen; allen standen Furcht, Entbehrung und Erschöpfung ins Gesicht geschrieben, und die Reichen sorgten sich genauso wie die Armen um die Frage, wie lange ihr Notgroschen, den sie irgendwo am Leib versteckt mit sich umhertrugen, wohl reichen würde.
In der Summe aber brachten die Neuankömmlinge viel Geld in die Stadt. Mit jedem einfahrenden Zug wuchs die Nachfrage nach Nahrung, Unterkunft und Dingen des täglichen Bedarfs, und weil das Angebot knapp war, stiegen die Preise ins Unermessliche. Dabei kam es dem Hutgeschäft der Maria Juarez zustatten, dass Flüchtlinge oft ihren Hut verloren und sich dann bei der ersten Rast nach Ersatz umsahen, um sich wieder einigermaßen als Mensch zu fühlen. Die Türglocke bimmelte ohne Unterlass. Die Geschäfte liefen glänzend, die Arbeitsbienen im Atelier fertigten mit fliegenden Händen Damen- und Herrenhüte von morgens bis abends. Und weil die meisten Kunden Ausländer waren und in fremdländischen Sprachen redeten, war Laura d’Oriano hinter dem Verkaufstresen unentbehrlicher denn je.
Kam hinzu, dass jetzt auch die Nachtcafés wieder voll waren. Laura hatte Auftritte, so viele sie wollte. Es gab Abende, an denen sie in drei verschiedenen Lokalen in drei verschiedenen Maskeraden auf der Bühne stand – erst hier als Svenja, die Lilie von Kopenhagen, dann da als Carmen, die Rose von Sevilla, und dort als Aisha, die Königin von Tripolis.
Das Geld, das sie verdiente, zerrann ihr zwischen den Fingern. Das Leben in Marseille war teuer geworden, und was übrigblieb, schickte sie wie gewohnt nach Bottighofen. Seit Emil Fraunholz ihre Überweisungen ablehnte, sandte sie das Geld der Schwiegermutter, die ihr im Gegenzug alle paar Monate kommentarlos Fotografien ihrer beiden Töchter schickte, auf denen diese pausbäckig in die Kamera strahlten und ihre
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