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Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)

Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition)

Titel: Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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für sich in Anspruch nehmen, der größte Fälscher aller Zeiten zu sein; denn er hatte nicht einfach nur ein paar Ölschwarten, Elfenbeinfigürchen oder Geldscheine kopiert, sondern nichts weniger als das Lebensbildnis der ältesten Hochkultur Europas erfunden – mit all ihrer spielerischen Lebensfreude und ihrem Hang zu Jugendstil und Art déco.
    Und wenn Emile Gilliéron auch das eine große Ziel seiner Jugend – das kleine Haus am Genfersee – noch immer nicht erreicht hatte, so konnte er doch mit sich zufrieden sein; er brauchte sich nichts mehr zu beweisen und war auf die Anerkennung der jungen Faktenhuber nicht angewiesen.
    Unangenehm war nur, dass er noch keine fünfundachtzig Jahre alt war und noch eine ganze Weile Geld verdienen musste. In Athen stand es um seine Angelegenheiten nicht besser als auf Kreta, die großen Museen und Institute kauften nichts mehr bei ihm. Im Jahr zuvor hatte er sich noch ein letztes Mal gegen die jungen Archäologen durchgesetzt und im staatlichen Antikenmuseum einen ganzen Saal mit Minoica aus eigener Produktion eingerichtet. Aber das war nun vorbei, neue Aufträge waren nicht in Sicht.
    Die Straße von Piräus nach Athen war geteert worden, zudem hatte man eine Straßenbahn gebaut. Eine dichte Kette von Automobilen war unterwegs, Pferdefuhrwerke und Eselskarren sah man kaum noch. Die Stadt war seit ein paar Jahren voller Autos, in den Sommermonaten hingen dichte Schwaden von Verbrennungsgasen in den Straßen. Die meisten Straßenbahnschaffner konnten Französisch, viele Kellner Deutsch. Das Haus der Familie Gilliéron stand nicht mehr auf einer Ziegenweide, sondern mitten in der lärmigen, rasch wachsenden Stadt.
    In einem halben Jahrhundert hatten Vater und Sohn Gilliéron alle entwicklungsgeschichtlichen Stadien der Archäologie durchlaufen. Sie waren mit Schliemann als archäologische Jäger und Sammler durch die Ägäis gestreift, dann waren sie mit Evans auf Knossos sesshaft geworden wie die Ackerbauern. Als die zu bestellenden Äcker knapp geworden waren, hatten sie sich auf spezialisiertes Kunsthandwerk für eine zahlungskräftige Oberschicht verlegt, und als dieser feudale kleine Markt eingebrochen war, hatten sie sich breitere Käuferschichten erschlossen, indem sie eine Manufaktur einrichteten und die Stückkosten senkten. Und den letzten Schritt zur Industrialisierung hatten sie unternommen, als sie ihre Nachbildungen maschinell und massenweise von einer Fabrik im Süden Deutschlands vervielfältigen ließen.
    Die Württembergische Metallwarenfabrik in Geislingen fabrizierte aufgrund Gilliéronscher Modelle in galvanoplastischem Verfahren minoische Stierköpfe und mykenische Trinkbecher aus Gold und Silber in jeder gewünschten Stückzahl, zudem allerlei Vasen, Öllampen und Kelche, Schwerter und Dolche, Münzen und Totenmasken sowie goldene Fingerringe wie den Ring des König Minos, der Arthur Evans zum Tempelgrab geführt hatte. Der reich illustrierte Katalog listete hundertvierundvierzig Artikel auf, Bestellungen waren an Emile Gilliéron, Rue Skoufa 43 in Athen, zu richten. In der Einleitung schrieb der Münchner Professor Paul Volters, die Artefakte seien nicht in ihrem verbogenen, zerdrückten und zerbrochenen Zustande gelassen, sondern wieder in die ursprüngliche Form gebracht worden.
    Die Minoika aus Geislingen sicherten Emile Gilliérons Existenz, sie waren preiswert und verkauften sich gut. Allmählich aber ging die Nachfrage zurück, der Markt schien gesättigt. Zudem hatte die Württembergische Metallwarenfabrik immer mehr Aufträge der Wehrmacht zu erledigen und fand nur noch selten Zeit für Gilliérons originelle Sonderwünsche.
    Damit nicht auch diese Einnahmequelle versiegte, musste Emile das Sortiment laufend erneuern. Zweimal jährlich – meist im Herbst und im Frühling – reiste er nach Geislingen, um neue Artefakte zu überbringen und Anweisungen für deren Reproduktion zu erteilen. Dann blieb er jeweils ein paar Tage in der Fabrik, überwachte die Herstellung der Hohlformen und begutachtete die ersten Kopien, bevor er wieder nach Athen zurückkehrte.
    Die Schiffs- und Bahnreisen wurden ihm von Jahr zu Jahr lästiger, er suchte nach Möglichkeiten, sich dieser Unannehmlichkeit zu entledigen. Irgendwann würde sein Sohn Alfred diese Reisen übernehmen, aber bis zu dessen Volljährigkeit würde es noch ein paar Jahre dauern.
    Als Emile Gilliéron am Morgen des 2. September 1939 zu seiner üblichen Herbstreise aufbrechen wollte, las er beim

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