Der Fälscher: Kriminalroman (German Edition)
mit ihr zu sprechen, ohne ihr in die Augen zu sehen. So schloss er bloß: »Wenn du dich nicht bei mir meldest, dann bedeutet das, dass du kommen wirst.«
Stave hatte den Brief in den Schlitz unter der Tür zu Annas Kellerwohnung geschoben. Es war einsam auf der Röperstraße gewesen, denn es war noch so früh, dass die Ausgangssperre galt. Von der Elbe wehten Nebelschleier hoch. Die Hausmauern glänzten vor Nässe. Die Wohnung war dunkel. Hoffentlich schläft Anna, hatte er gedacht. Nicht, dass diese Dunkelheit bedeutet, dass sie ganz woanders ist.
Der andere Brief war ebenfalls eine Bitte um ein Treffen zum Mittagessen – allerdings eines, bei dem der Oberinspektor nicht daran denkt, die Rechnung für beide zu bezahlen. Während der braunen Zeit war Stave den Kollegen von der Gestapo aus dem Weg gegangen – was nicht ganz leicht war bei mindestens 200 Männern, die in Hamburg für die politische Polizei arbeiteten. Über die Gestapo-Zentrale im Stadthaus sprach man nur flüsternd oder besser gar nicht. Bereits im April 1933 war dort der erste Häftling umgekommen, zumindest der erste, von dem Stave erfahren hatte. Der Werftarbeiter Gustav Schönherr war gefoltert worden und nach diesem »verschärften Verhör« am helllichten Tag aus einem Fenster »gestürzt«. Doch nicht nur im Kollegenkreis munkelte man, dass der eine oder andere Beamte beim fatalen Sturz in die Tiefe nachgeholfen habe. Die ganze Stadt wusste davon und sollte es auch wissen – je mehr man die Gestapo fürchtete, desto besser liefen deren Ermittlungen.
Im Herbst 1938 allerdings war ein Gestapo-Mann am Morgen nach der »Reichskristallnacht« bei Stave auf der Dienststelle erschienen. Warum, hatte der Oberinspektor nie herausgefunden, denn dieser Philip Greiner war so betrunken, dass er kaum noch gehen und gar nicht mehr zusammenhängend reden konnte. Er war verheult und hatte sich beschmutzt. Ausgerechnet in jenem Moment war ein empörter höherer SS-Offizier aufgekreuzt, dem Unbekannte in der Nacht die Reifen seines Mercedes aufgeschlitzt hatten. Stave war es gelungen, den torkelnden Gestapo-Mann in einen Nebenraum zu schleifen und danach die Anzeige des tödlich zornigen Uniformierten entgegenzunehmen. Hätte der SS-Mann den Betrunkenen erblickt, er hätte seine Wut an ihm ausgelassen. Seither hatte Stave bei Greiner einen Gefallen gut – einen Gefallen, den er nie eingelöst hatte. Bis heute.
Greiner war, wie alle Gestapo-Männer, von den Briten 1945 entlassen worden. Stave hatte ihn aus den Augen verloren, doch es war nicht schwer gewesen, seine Adresse herauszufinden: In der Kripo arbeiten Kollegen, die sich mit den ehemaligen Agenten der Gestapo immer noch abends zum Skatspielen treffen. Er hatte Greiner in knappen Zeilen angedeutet, dass er Gestapo-Informationen über Dönnecke und über Doktor Schramm haben wolle. Und er hatte ihn zum Mittagessen im Winterhuder Fährhaus einbestellt – groß, unübersichtlich und weit genug entfernt von der Kripo-Zentrale, sodass es unwahrscheinlich ist, dass sie dort ein Kollege zufällig erkennt. Schließlich hatte er Hauptpolizist Heinrich Ruge zu sich kommandiert und dem Schupo eingeschärft, das Schreiben persönlich bei Greiner abzuliefern. »Und reden Sie mit niemandem darüber!« Auf keinen Fall soll Dönnecke erfahren, dass Stave plötzlich Kontakt zu einem ehemaligen Gestapobeamten aufnimmt.
Der junge Polizist hat sich inzwischen abgewöhnt, nach Anweisungen militärisch stramm die Hacken zusammenzuschlagen, sondern nickt bloß und lächelt verschwörerisch. »Und was mache ich, wenn Greiner sich weigert, den Brief anzunehmen?«
»Dann sagen Sie ihm, ich würde kommen und ihn an den November 1938 erinnern.«
Das Klingeln des Telefons schreckt den Oberinspektor auf. Seit Tagen hat auf dem ganzen Flur des Chefamtes S kein Apparat mehr geläutet.
»Alter Junge«, ruft MacDonald. Die Verbindung ist schlecht, obwohl es ein Ortsgespräch ist. »Treffen wir uns heute Mittag in der Werkstatt am Holstenhofweg? Vorher habe ich keine Zeit. Aber dann hole ich den Jeep ab. Wir können unseren Besuch bei der Filmgröße für einen der nächsten Tage verabreden. Ich werde bis dahin die Erlaubnis haben.«
»Sehr gerne, wenn Sie mich danach mit dem Wagen nach Winterhude bringen.«
»In meinem nächsten Leben werde ich Taxifahrer. Wir sehen uns um halb zwölf.«
Stave hört das Klicken, gefolgt vom Summen der Leitung. Gedankenverloren blickt er hinaus. Die Musikhalle gegenüber ist in
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