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Der Faenger im Roggen - V3

Titel: Der Faenger im Roggen - V3 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. D. Salinger
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nicht?« sagte ich. Es hätte
    mir großes Vergnügen gemacht.
»Ich glaube, doch lieber nicht. Aber vielen Dank, mein Lieber«, sagte sie. »Wahrscheinlich ist
    der Speisewagen ohnedies geschlossen. Es ist schon ziemlich spät.« Damit hatte sie recht. Ich
    hatte nicht daran gedacht, wieviel Uhr es war.
Dann schaute sie mich an und stellte die Frage, die ich schon lange befürchtet hatte. »Ernest
    schrieb mir, er käme Mittwoch heim, die Weihnachtsferien fingen am Mittwoch an«, sagte
    sie.
»Hoffentlich müssen Sie nicht wegen einem Krankheitsfall in Ihrer Familie früher heimreisen.«
    Sie schien ernstlich besorgt zu sein. Sie fragte nicht einfach aus Neugierde, das sah man
    deutlich.
»Nein, zu Hause geht es allen gut«, sagte ich. »Nur ich selber muß mich jetzt operieren
    lassen.«
»Ach! Das tut mir aber leid!« sagte sie. Sie meinte es sogar aufrichtig. Ich bereute sofort,
    daß ich das gesagt hatte, aber es war zu spät.
»Nichts Ernstes. Ich habe nur einen ganz kleinen Tumor im Gehirn.«
»Wie schrecklich!« Sie hielt sich die Hand vor den Mund.
»Ach, ich erhole mich bald wieder. Er liegt nicht tief, ganz außen sogar. Und er ist sehr
    klein. Man kann ihn in zwei Minuten entfernen.«
Dann fing ich an, in dem Fahrplan zu lesen, den ich in der Tasche hatte. Nur um mit dem Lügen
    aufzuhören. Sobald ich einmal in Fahrt bin, kann ich stundenlang weiterlügen, wenn ich dazu
    aufgelegt bin. Stundenlang, im Ernst!
Danach sagten wir nicht mehr viel. Sie las in einem Vogue-Heft, und ich schaute eine Weile zum
    Fenster hinaus. In Newark stieg sie aus. Sie wünschte mir alles Gute für die Operation. Sie
    nannte mich immer weiter Rudolf. Dann lud sie mich ein, Ernie im Sommer in Gloucester zu
    besuchen, in Massachusetts. Sie sagte, sie wohnten ganz am Strand, und sie hätten einen
    Tennisplatz und so.
Aber ich bedankte mich nur und sagte, ich ginge mit meiner Großmutter nach Südamerika. Das war
    besonders stark, weil meine Großmutter kaum jemals auch nur ihr Haus verläßt höchstens für
    irgendeine verdammte Matinee oder so. Aber diesen Hund Morrow würde ich um alles Geld in der
    Welt nicht besuchen, nicht einmal, wenn ich am Verzweifeln wäre.

9. Kapitel
    Als ich in Penn Station ausstieg, ging ich zuallererst in eine Telefonkabine. Ich hatte Lust,
    irgend jemand anzurufen. Ich ließ die Koffer vor der Kabine stehen, um sie im Auge zu behalten,
    aber sobald ich drinnen war, fiel mir kein Mensch ein, mit dem ich hätte telefonieren können.
    Mein Bruder D.B. war in Hollywood. Meine kleine Schwester Phoebe geht immer um neun ins Bett -
    sie kam also auch nicht in Betracht. Sie selbst hätte zwar nichts dagegen gehabt, wenn sie von
    mir geweckt worden wäre, aber leider hätte nicht sie das Telefon abgenommen, sondern meine
    Eltern. Das ging nicht. Dann wollte ich Jane Galaghers Mutter anrufen und fragen, wann Janes
    Ferien anfingen, aber dann war ich doch nicht in der Stimmung dazu. Außerdem war es schon
    reichlich spät.
Schließlich dachte ich an das Mädchen, mit dem ich oft ausgegangen war, Sally Hayes, weil ich
    wußte, daß sie schon Ferien hatte - sie hatte mir einen langen affektierten Brief geschrieben
    und mich eingeladen, ihr am Heiligen Abend den Baum schmücken zu helfen -, aber ich
    befürchtete, daß ihre Mutter ans Telefon käme.
Ihre Mutter kannte meine Mutter, und ich konnte mir vorstellen, wie sie sich sofort ein Bein
    ausreißen würde, um meine Mutter anzurufen, und ihr mitteilen würde, daß ich in New York sei.
    Ich legte überhaupt keinen großen Wert darauf, mit Mrs. Hayes zu telefonieren. Sie hatte einmal
    zu Sally gesagt, ich sei haltlos und hätte keine feste Lebensrichtung. Zu guter Letzt fiel mir
    noch Carl Luce ein, mit dem ich früher in Whooton gewesen war, aber ich hatte ihn nicht
    besonders gern.
Deshalb rief ich schließlich überhaupt niemand an. Ich kam nach ungefähr zwanzig Minuten wieder
    aus der Kabine heraus, nahm meine Koffer und ging zu den Taxis hinüber.
Ich bin so verdammt zerstreut, daß ich dem Fahrer aus lauter Gewohnheit meine richtige Adresse
    gab - ich vergaß vollständig, daß ich ein paar Tage lang in einem Hotel absteigen wollte, bis
    die Ferien anfingen. Es fiel mir erst wieder ein, als wir schon halb durch den Central Park
    gefahren waren. Ich rief: »He, könnten Sie wohl bei der nächsten Gelegenheit umkehren? Ich
    wollte in die Stadt hinein.«
Der Fahrer antwortete ziemlich frech: »Hier kann ich nicht umkehren, Mac. Einbahn. Ich muß bis
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