Der Faenger im Roggen - V3
gut
einfügt.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ach, er ist sehr sensibel. Er hat sich eigentlich nie richtig an andere angeschlossen.
Vielleicht nimmt er vieles etwas zu ernst für sein Alter.«
Sensibel! Das warf mich um. Dieser Morrow war ungefähr ebenso sensibel wie ein verdammter
Klosettsitz.
Ich betrachtete sie eingehender. Sie schien mir nicht dumm zu sein. Sie sah eher aus, als ob
sie eine recht deutliche Ahnung davon hätte, was für eines Schweinehunds Mutter sie war. Aber
sicher kann man nie sein - mit irgendeiner Mutter meine ich.
Mütter sind nie ganz bei Trost. Dabei gefiel mir Morrows Mutter. Sie war wirklich nett.
»Möchten Sie vielleicht eine Zigarette?« fragte ich.
Sie schaute sich um. »Ich glaube, wir sind hier nicht im Raucher, Rudolf«, sagte sie. Rudolf.
Ich wäre fast geplatzt.
»Das macht nichts. Wir können trotzdem rauchen, bis uns jemand anschreit«, sagte ich. Sie nahm
eine Zigarette von mir, und ich zündete sie ihr an.
Sie rauchte auf eine sympathische Art. Sie inhalierte zwar, aber sie verschlang den Rauch nicht
so gierig, wie das die meisten Frauen ihres Alters tun. Sie hatte viel Charme. Auch viel
Sex-Appeal, falls das jemand interessiert.
Sie schaute mich etwas sonderbar an. »Wenn ich mich nicht täusche, blutet Ihre Nase, mein
Lieber«, sagte sie plötzlich. Ich nickte und zog mein Taschentuch heraus. »Von einem
Schneeball«, sagte ich. »Es war fast eine Eiskugel.«
Wahrscheinlich hätte ich ihr erzählt, was wirklich passiert war, aber es wäre eine zu lange
Geschichte gewesen. Sie gefiel mir aber. Allmählich tat es mir leid, daß ich ihr gesagt hatte,
ich hieße Rudolf Smith. »Ernie ist einer der beliebtesten Schüler in Pencey«, sagte ich.
»Wußten Sie das?«
»Nein, das wußte ich nicht.«
Ich nickte. »Die meisten haben lange gebraucht, bis sie ihn richtig kannten. Er ist ein
komischer Mensch. Wirklich sonderbar in vieler Hinsicht - verstehen Sie, was ich meine? Zuerst
hielt ich ihn für einen Snob. Aber er ist gar keiner. Er hat nur einen sehr originellen
Charakter, so daß man eine Weile braucht, bis man ihn richtig kennt.«
Mrs. Morrow schwieg, aber man hätte sie dabei sehen sollen.
Sie saß wie angeleimt da. Jede Mutter will immer nur hören, was für ein Prachtexemplar ihr Sohn
sei.
Dann legte ich mich wirklich ins Zeug. »Hat er Ihnen von den Wahlen in unserer Klasse erzählt?«
fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. Ich hatte sie sozusagen hypnotisiert.
Im Ernst.
»Viele von uns wollten ihn als Klassenpräsident haben. Eigentlich waren alle einstimmig für
ihn. Er war eben der einzige, der dieser Aufgabe wirklich gewachsen gewesen wäre«, sagte ich.
Großer Gott, ich ging vielleicht ran. »Aber dann wurde ein anderer gewählt - Harry Fencer. Aus
dem einfachen und offensichtlichen Grunde, daß Ernie sich nicht wählen lassen wollte. Weil er
so furchtbar schüchtern und bescheiden ist. Er weigerte sich. Er ist wirklich viel zu
schüchtern. Sie müßten versuchen, ihn darüber wegzubringen.« Ich schaute sie an. »Hat er
wirklich gar nichts davon erzählt?«
»Nein, kein Wort.«
Ich nickte. »Das sieht ihm ähnlich. Charakteristisch für ihn. Das ist sein einziger Fehler - er
ist viel zu schüchtern und bescheiden. Sie sollten wirklich versuchen, ihn manchmal zu
lockern.«
In diesem Augenblick kam der Schaffner und wollte Mrs. Morrows Billett sehen. Das war eine gute
Gelegenheit, mit dem Gefasel aufzuhören. Aber ich bin doch froh, daß ich das alles gesagt habe.
So ein Typ wie Morrow, der immer mit seinem Handtuch andern auf den Arsch schlägt - um den
andern wirklich weh zu tun -, ist ja nicht nur in seiner Kindheit ein Schwein. Er bleibt ein
ganzes Leben lang ein Schwein. Aber auf mein Geschwätz hin sieht Mrs. Morrow sicher immer den
schüchternen, bescheidenen Knaben in ihm, der sich nicht wählen lassen wollte. Vielleicht. Man
weiß nie, Mütter sind in diesen Sachen nie besonders helle.
»Hätten Sie gern einen Cocktail?« fragte ich. Ich war selber in der Stimmung, einen zu trinken.
»Wir können in den Speisewagen gehen. Hätten Sie Lust?«
»Dürfen Sie denn Drinks bestellen, mein Lieber?« fragte sie.
Nicht hochnäsig. Sie war viel zu nett, um hochnäsig zu sein.
»Nein, eigentlich nicht, aber meistens bekomme ich sie doch, wegen meiner Größe«, sagte ich.
»Und ich habe ziemlich viel graue Haare.« Ich drehte den Kopf auf die Seite und zeigte ihr die
grauen Haare. Sie war ganz fasziniert. »Kommen Sie mit, wollen Sie
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