Der Falke des Nordens
…”
“Rachelle – ich wollte Sie vorhin nicht beleidigen.”
Die junge Frau blickte auf. “Sie haben nicht mich, sondern meinen Herrn beleidigt.”
“Ja”, gab Joanna seufzend zu. “Wahrscheinlich ist das hier bei Ihnen ein Kapitalverbrechen.”
“Die Kleider dort”, sagte das Mädchen. “Ich habe Ihre Größe nur geschätzt …”
“Davon brauche ich sowieso nichts.”
Rachelle zuckte die Schultern. “Ich dachte nur, Sie würden sich darin wohler fühlen als in einer Dschellaba, diesem weiten Männergewand, aber wenn es Ihnen besser gefällt …”
“Ich bin nicht lange hier. Für die kurze Zeit lohnt es sich nicht, dass ich mich umziehe.”
“Es kann doch nicht schaden, die Sachen zur Verfügung zu haben”, meinte Rachelle beharrlich.
“Nein, das erübrigt sich”, entgegnete Joanna bestimmt. “Wahrscheinlich hat Khalil inzwischen Nachricht von meinem Vater und …” Sie blickte die junge Frau eindringlich an. “Das hat er doch, oder nicht?”
Rachelle zögerte kaum merklich. “Ich weiß es nicht.”
“Khalil hat behauptet, mit meinem Vater in Verbindung getreten zu sein. Stimmt das?” Joannas Stimme klang schärfer als beabsichtigt, denn sie wurde langsam ungeduldig. “Kommen Sie schon, Rachelle. So eine simple Frage können Sie doch beantworten. Weiß mein Vater, was mit mir geschehen ist?”
“Ja”, antwortete Rachelle mit verschlossener Miene.
Sam wusste also, dass man sie gefangen hielt, hatte jedoch offensichtlich noch nichts zu ihrer Befreiung unternommen.
“Ich nehme alles wieder mit, weil Sie ja nicht …”
“Nein!” Joanna schüttelte den Kopf und legte Rachelle die Hand auf den Arm. “Ich habe es mir anders überlegt. Ich will dieses Ding hier, das wie Khalils Bademantel aussieht, keine Minute länger tragen.” Dann ging sie zum Bett und hob eines der Kleidungsstücke hoch. “Was ist das denn?”, fragte sie verächtlich.
“Ein Rock”, gab das Mädchen lächelnd Auskunft. “Und dort ist noch eine dazupassende Bluse. Wenn Sie Ihnen gefallen …”
“Das ist nichts für mich!”
“Wollen Sie weiterhin in der Dschellaba herumlaufen?”
Plötzlich fühlte Joanna sich in dem Männergewand aus Wolle gar nicht mehr wohl. “Nein”, antwortete sie deshalb. Und ohne lange darüber nachzudenken, sagte sie: “Bringen Sie mir Hosen!” Es bereitete ihr ein boshaftes Vergnügen, zu sehen, wie schockiert Rachelle nun war.
“Hosen? Aber …”
“Ich weiß. In Jandara tragen die Frauen keine. Aber ich gehöre ja nicht hierher, Rachelle. Teilen Sie meinen Wunsch bitte Ihrem Prinzen mit.” Natürlich machte sie sich keine Illusionen. Khalil würde nicht damit einverstanden sein, dass seine Geisel sich so westlich kleidete.
Eine Stunde später wiederholte sich der Vorgang. Rachelle erschien abermals mit Kleidungsstücken auf dem Arm. “Ich hoffe, diese gefallen Ihnen besser”, sagte sie und legte alles aufs Bett.
Erst nachdem das Mädchen das Zimmer wieder verlassen hatte, begutachtete Joanna die neue Auswahl. Langsam hellte sich ihre Miene auf, denn darunter befanden sich zwei Baumwollhosen und viele Hemden und T-Shirts. Aber als sie einige der Sachen herauszog, stellte sie fest, dass es sich um Männerkleidung handelte, die ihr wahrscheinlich zu groß war. Doch das war ihr nun gleichgültig. Schließlich wollte sie darin keine Modenschau veranstalten.
Rasch zog sie das Gewand aus und eine der Hosen an. Dazu wählte sie ein marineblaues Baumwoll-T-Shirt. “Es sind Khalils Klamotten”, fuhr es ihr plötzlich durch den Kopf. Obwohl alles frisch gewaschen war, hatte es noch unverkennbar seinen männlichen Duft, ein Duft nach Gebirge, Wind und dem Hengst, den er ritt.
Sie erbebte bis ins Innerste und schloss die Augen. Die Erinnerung überfiel sie an den endlosen Ritt durch die stille Mondscheinnacht. Sie durchlebte noch einmal das beruhigende Gefühl, das sie in Khalils Armen empfunden hatte.
Joanna rief sich zur Ordnung. Ungeduldig zog sie das T-Shirt über. Ja, es war eindeutig Khalils Duft! Ach, Unsinn, sagte sie sich dann. Es riecht nur nach Seife und frischer Luft. Wenn sie nicht bald aus diesem Gefängnis herauskam …
Als jemand ganz leicht an die Tür klopfte, glaubte sie, es sei wieder die junge Frau. “Rachelle? Danke für die Sachen. Schade, dass sie alle Ihrem allmächtigen Prinzen gehören, trotzdem …”
“Ich kann Ihnen versichern, Joanna, nichts davon ist infiziert oder verseucht”, meinte Khalil ironisch.
Joanna errötete tief.
Weitere Kostenlose Bücher