Der Falke des Nordens
mein ehemaliges Kindermädchen. Sie hat meine englische Mutter außerordentlich geliebt und war immer froh darüber, dass ich …”
Joanna blickte ihn erstaunt an. “Ihre Mutter war dann also Engländerin?”
Er lachte. “Ja, Archäologin. Sie kam nach Jandara, um sich an Ausgrabungen zu beteiligen. Es würde perfekt in Ihre vorgefasste Meinung passen, wenn ich nun erklären müsste, mein unzivilisierter Vater hätte sie entführt. Tatsache ist jedoch, dass die beiden sich beruflich kennenlernten, sich sogleich ineinander verliebten und bereits zehn Tage später heirateten.” Er umfasste ihre Taille und führte Joanna mitten ins Menschengewühl auf dem Marktplatz.
“Und, waren sie glücklich?”
“Ja, sehr sogar. Stellen Sie sich das mal vor. Ist es wirklich so schwierig, sich das vorzustellen?”
“Ich weiß nicht, was ich sagen soll – und auch nicht, was ich noch glauben soll”, sagte Joanna leise.
Er zog sie fester an sich. “Vielleicht sehen Sie abends klarer.”
Als die Sonne langsam unterging, ritten sie heimwärts. Joanna war nun vollends verwirrt. Alles war anders, als sie erwartet hatte, obwohl sie tief in ihrem Innern so etwas geahnt hatte.
Viele Leute hatten Englisch gesprochen, besonders die jüngeren. “Prinz Khalil sagt immer, dass es die wichtigste internationale Sprache sei, also lernen wir sie”, erklärte ihr ein Pferdehändler ernsthaft. “Wir fangen in der Schule schon in der ersten Klasse damit an.”
“Ach ja, aber nur die Jungen, oder?”
“Ist das in Ihrem Land so?”, erkundigte sich der junge Mann stirnrunzelnd.
“Nein, bei uns haben Jungen und Mädchen die gleichen Chancen.”
“Hier auch. Ich freue mich zu hören, dass man in Amerika ebenso denkt.”
Khalil lachte und klopfte dem Mann auf die Schulter. “Glauben Sie mir, es ist tatsächlich so.”
“Es ist sicher schwierig, so fernab von jeglichem modernen Komfort Kinder großzuziehen, nicht wahr?”, sprach Joanna eine junge Frau an, die mit anderen plauderte.
Die Frau nickte. “Einfach ist es nicht.”
“Warum bleiben Sie dann hier? Verbietet Ihnen Prinz Khalil wegzugehen?”, erkundigte Joanna sich, wobei ihre Stimme ein wenig schrill klang, denn Khalil stand nur wenige Meter entfernt an einen Stand gelehnt.
Die Frau erklärte den anderen kurz, was Joanna gesagt hatte, und sogleich brachen alle in fröhliches Gelächter aus. “Wir können jederzeit gehen, wohin wir wollen”, antwortete sie schließlich. “Aber es wäre ausgesprochen dumm, im Süden unter Abus Herrschaft das Glück versuchen zu wollen, wie Sie sicher bereits gehört haben.”
Joanna blickte die Frau nachdenklich an. Alles stellt sich für mich nun in einem ganz anderen Licht dar, überlegte sie. Dann bedankte sie sich höflich für das Gespräch.
Schweigend ließ sie Khalil gewähren, der sie an der Hand über die staubbedeckte Straße führte.
“Nun, Joanna?”, fragte er sanft. “Haben Sie sich von den tatsächlichen Verhältnissen überzeugen können?”
“Ich bin müde, Khalil, es war ein langer Tag. Lassen Sie uns bitte zurückreiten.”
Er warf ihr einen undefinierbaren Blick zu und nickte dann. “Wie Sie wünschen.”
Als sie wieder bei den Pferden ankamen, legte Joanna der Stute die Hand auf den Nacken und schloss die Augen, während sie die Stirn in die raue Mähne des Tieres drückte.
“Joanna.” Khalils Stimme klang sanft, und er berührte Joanna liebevoll an der Schulter. Nachdem er sie ein zweites Mal angesprochen und sie immer noch nicht reagiert hatte, ließ er das Pferd von einem seiner Männer wegführen.
Kurz entschlossen hob er Joanna auf den Rücken des schwarzen Hengstes, ehe er sich hinter ihr in den Sattel schwang. Joanna protestierte nicht, als er die Arme um sie legte und die Zügel in die Hand nahm. Sie war viel zu müde und abgespannt, um sich gegen irgendetwas zu wehren.
Jetzt ritten sie hinaus in die Berge. Auf einer Wiese, die übersät mit blühenden Blumen war, hielt Khalil Najib an, ließ sich zu Boden gleiten und half dann Joanna vom Pferd.
“Was bedrückt Sie, Joanna?”
Sie senkte den Kopf, weil sie vor Khalil die Tränen in ihren Augen verbergen wollte. Doch er umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen und zwang sie, ihn anzuschauen. “Ist es so schlimm, sich mit den Tatsachen abzufinden?”, erkundigte er sich sanft.
Sie schüttelte den Kopf. War das, was sie gesehen hatte, Wahrheit oder Illusion? Bald würde sie es nicht mehr unterscheiden können.
“Und warum weinen Sie,
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