Der Falke des Nordens
wieder bei diesem Thema? Es könnte sich in der Tat als nützlich herausstellen, Sie als Ziegenhirtin einzusetzen!”
“Ich würde mich lieber um Lilia kümmern”, erwiderte sie schnippisch. “Die Kleine scheint nicht besonders glücklich zu sein.”
“Auch mir ist klar, dass Lilia Gesellschaft braucht – ich hätte aber nicht gedacht, dass es Ihnen Freude machen würde, sich mit ihr zu beschäftigen.”
“Woher sollten Sie es auch wissen? Sie sind sowieso davon überzeugt, ich sei eine herzlose und maßlos verwöhnte Frau. Einerseits werfen Sie mir Schubladendenken vor, andererseits versuchen Sie ständig, mich in ein Schema zu pressen, um Ihre vorgefasste Meinung bestätigt zu finden.”
“Ich weiß, was ich sehe!”
“Ach, tatsächlich? Dann müssten Sie eigentlich bemerkt haben, dass ich Kinder sehr gern habe. Eine Zeit lang hatte ich sogar ernsthaft den Wunsch, Lehrerin zu werden.”
“Was hat Sie daran gehindert?”
Joanna zögerte kurz mit der Antwort. “Mein Vater war nicht einverstanden.”
“Deshalb haben Sie sich für ein anderes Studienfach entschieden? Das kann ich kaum glauben.” Dieses Mal wirkte Khalils Lächeln aufrichtig.
Wieder zögerte sie, weil sie sich nicht genau erklären konnte, warum sie ihm etwas anvertraute, was bisher noch niemand erfahren hatte. “Ich dachte, es wäre ihm lieber, ich würde in die Firma eintreten”, erklärte sie.
“Aber das stellte sich dann als Irrtum heraus, stimmt’s?”, fragte Khalil leise.
Joanna nickte resigniert. “Ja. Er wollte lediglich, dass ich …”
“Sie sollten das sein, was ich Ihnen vorgeworfen habe, nämlich ein hübsches Anhängsel an seiner Seite, das er stolz vorzeigen konnte.”
“Genau”, erwiderte sie heftig, bemerkte jedoch im selben Moment, dass in seinem Blick nicht der geringste Spott lag. Allerdings konnte sie den rätselhaften Ausdruck in seinen Augen nicht deuten.
“Vielleicht sehen wir nur das, was wir sehen wollen”, sagte er schließlich.
Joanna fand diese Feststellung recht eigenartig und wollte ihn fragen, was er damit meinte. Doch sie kam nicht dazu, denn er legte ihr den Arm um die Schultern und führte sie hinaus in den hellen Sonnenschein.
Vor ihnen, auf dem kopfsteingepflasterten Hof, standen zwei Pferde bereit. Sogleich erkannte Joanna Najib, den kräftigen schwarzen Hengst wieder, der ungeduldig mit den Hufen scharrte. Neben ihm wartete ein kleineres, zierlicheres Pferd. Die Zügel waren mit kleinen Silberglöckchen geschmückt, und der Sattel aus geprägtem Leder stellte ein wahres Meisterwerk dar.
“Sie heißt Sidana und ist sehr sanft, obwohl es auch ihr vielleicht nicht gefallen wird, wenn man von der falschen Seite aufsteigt. Ich garantiere Ihnen, beide werden uns sicher ans Ziel und wieder zurückbringen”, erklärte Khalil, während er der Stute sanft die Nüstern streichelte.
Joanna schaute ihn nachdenklich an. “Sie wollen mich gar nicht freilassen, nicht wahr?”, fragte sie beklommen.
Er schüttelte den Kopf. “Nein.”
“Ich verstehe.”
“Nein, das tun Sie nicht. Nach dem heutigen Tag jedoch werden Sie die Lügen, die Ihnen Ihr Vater aufgetischt hat, als solche erkennen.”
“Und wessen Lügen werde ich dann glauben? Ihren etwa?”
Es zuckte verräterisch um seinen Mund, doch er beherrschte sich eisern. “Steigen Sie auf”, forderte er sie angespannt auf.
“Das ist doch sinnlos! Wenn Sie mich für dumm genug halten, auf irgendein Theater hereinzufallen, das Sie mir zu Ehren inszenieren …”
“Tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe, Joanna. Oder ich hebe Sie auf Najibs Rücken, und wir reiten zusammen auf einem Pferd!”
Damit er wieder die Arme um mich legen und ich seinen Herzschlag spüren kann? Und seinen warmen Atem an den Schläfen? Und seine Oberschenkel an meinen?, fuhr es ihr durch den Kopf. Sie errötete bei diesen Gedanken. “Lieber würde ich mit dem Teufel reiten”, sagte sie leise vor sich hin. Dann hielt sie sich am Sattelknopf fest, setzte den Fuß in den Steigbügel und stieg in den Sattel.
“Alles in Ordnung?”, erkundigte Khalil sich. Und als sie nickte, schwang er sich mit einer geschmeidigen Bewegung auf Najibs Rücken. “Sidana wird Ihnen keine Probleme bereiten. Sie ist sanftmütig, gehorsam und gut ausgebildet.”
“Das Bild der perfekten Frau”, warf Joanna zuckersüß ein, während sie losritten. In angemessener Entfernung folgten ihnen zwei von Khalils Leuten.
Er lachte belustigt auf. “So habe ich es noch nicht gesehen,
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