Der Falke von Aryn
Schultern. »Meine Schwester sagt, es ginge der Göttin nicht um Almosen, diese wären nur für jene, die sich selbst nicht mehr helfen könnten. Es ginge darum, anderen zu helfen, sich selbst zu helfen. Ich glaube, es scheitert jedoch auch daran, dass viele Menschen mit wenigem zufrieden sind. Ein voller Magen und ein Schlafplatz reichen vielen schon. Es fehlt ihnen an der Bereitschaft und dem Ehrgeiz, etwas anzupacken und aufzubauen.« Er sah zu ihr hinüber. »Aber manchmal fühle ich mich schuldig und denke, dass meine Schwester recht hat und ich mehr tun könnte …«
»Warum tust du es nicht?«
»Vor vier Wochen kam ein junger Mann zu mir und fragte, ob er eine Mühle bauen könne. Wir haben zwei auf meinem Land, aber Baron Pasik, einer meiner Nachbarn, meinte kürzlich, dass er eine weitere Mühle gebrauchen könnte. Ich habe dies dem jungen Burschen gesagt. Der sagte allerdings, so weit wolle er nicht weg, es wäre auch nur eine Idee gewesen; das war das Letzte, was ich davon hörte.« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Mutter sagt, die Menschen wären einfach viel zu oft nur träge und würden sich vor Neuem scheuen. Deshalb blieben sie bei dem, was sie kennen, und würden nicht nach anderem streben.« Er zuckte mit den Schultern. »Jetzt hat Pasik einen Aushang an den Wirtshäusern in der Umgebung angebracht, dass er einen Müller sucht; bislang hat sich noch niemand dafür gemeldet.«
Er richtete sich auf und streckte den Rücken durch, der ihm auf der harten Bank ein wenig steif geworden war. »Da kommt Larmeth, es scheint, als wäre sie fündig geworden.«
Nachdem Larmeth sie mehrfach ermahnt hatte, besonders vorsichtig mit den alten Aufzeichnungen umzugehen, hatten sie sich in eine der Gebetszellen zurückgezogen und damit angefangen, sie zu studieren, im Licht von Laternen, da Larmeth ihnen auch offene Kerzen verboten hatte.
Obwohl sich die Priester damals Mühe gegeben hatten, deutlich zu schreiben, und die Tinte oftmals mit gemahlenen Halbedelsteinen versetzt war, um sie dauerhaft zu machen, war es nicht einfach, die eng beschriebenen Seiten zu lesen. Zum Teil waren es auch die Formulierungen, die es Lorentha schwer machten; manche Wörter ergaben für sie kaum mehr einen Sinn oder schienen ihren Sinn verloren zu haben. Dazu kam, dass sie auf den Straßen von Manvare zwar die Sprache sprechen lernte, sich die Schrift dennoch zum Teil deutlich von der kaiserlichen unterschied. Sie legte ein Blatt zur Seite, von dem sie zwar jedes Wort gelesen, aber nur jedes dritte verstanden hatte, und seufzte unzufrieden.
»Ich kann gelehrte Traktate in Fränkisch lesen oder in Castillian. Aber …« Sie tat eine entnervte Geste in Richtung des Stapels, der noch vor ihr lag. »Hiervon verstehe ich das meiste nicht, und mir pocht jetzt schon der Schädel. Hast du irgendetwas, das vielleicht in Fränkisch geschrieben ist? Oder ist alles nur in der Tempelschrift gehalten?«
»Nur das hier«, sagte er. »Das Protokoll der Hochzeit, es ist in Manvare und in Fränkisch abgefasst, vielleicht, weil es beide Seiten betraf.« Er blätterte durch seinen Stapel und schüttelte den Kopf. »Sonst nichts.«
»Dann musst du den Löwenanteil tun«, sagte sie und rieb sich die Augen. »Bist du über irgendetwas gestolpert?«
»Nichts, was dem entgegensteht, was in diesem Gerücht behauptet wird«, sagte Raphanael müde. »Ich will es noch nicht glauben, aber es kann sein, dass Lord Visal sich im Recht befindet. Hier.« Er hielt ihr ein Blatt hin. »Das ist eine Seite aus dem Vertrag, der von dem damaligen Hohepriester zur Hochzeit abgeschlossen wurde. Demnach ›ergeht Titel, Pflicht und Recht von Aryn nach altem Recht in die Hand des Prinzen Pladis zur erblichen Verwahrung‹ .« Er schaute auf das Blatt hinab und runzelte die Stirn. »Was sich so anhört, wie Visal behauptet, Pladis war nur Treuhänder von Aryn, bis es einen Erben gab.« Er griff nach einem anderen Blatt. »Oder das: ›Er schwöret vor der Göttin, dass er die Tore offen halten will, auf Aryns Grenzen keinen Zoll erhebet und den Säckel treu und gut verwalten wird.‹ « Er sah zu ihr hin. »Pladis’ Verpflichtung.« Er zog ein anderes Blatt heraus.
»Und nur dieses hier bezieht sich auf den Falken. Noch nicht einmal eine offizielle Schrift, eine Notiz von einem der Priester damals, kurz nach dem Aufstand vier Jahre später. ›Ließ Kaiser Pladis einen goldenen Falken zum Tempel verbringen, als Unterpfand für seinen Schwur gut und treu zu halten,
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