Der Falke von Aryn
seine Schwester grübelnd vor dem Altar stand und schließlich Anweisungen erteilte, den Altar abzuräumen, um zum Schluss das Tuch abzuziehen. Sie schien irgendetwas dort zu suchen … und auch zu finden, und sie gab den Priestern ein Zeichen, den Vogel auf den Altar zu setzen. Sie selbst schob den Vogel etwas hin und her, dann klickte etwas, und die Krallen des Vogels bohrten sich in die polierte Steinplatte des Altars.
Ein Surren und eine Folge von leisen Klicklauten waren zu hören, schließlich begann sich der Vogel zu bewegen. Mit weiten Augen traten alle von dem Altar zurück und sahen ungläubig zu, wie sich der mechanische Vogel, seinen lebenden Artgenossen gleich, das metallene Gefieder putzte.
»Ich habe mich schon immer gefragt, wofür die Löcher in der Altarplatte sind«, meinte die Priesterin leise, als sie sich das Wunder vor ihnen mit großen Augen besah.
»Göttin«, flüsterte Raphanael ergriffen, als der Falke sich ein letztes Mal in der Tempelhalle umsah und dann seine Flügel anlegte und in einer stolzen Pose erstarrte, aufrecht, Augen und Schnabel auf die Tür des Tempels gerichtet. Wo eben noch das metallene Gefieder staubig und verdreckt gewesen war, hatte der Vogel es selbst mit seiner Magie zur alten Blüte gebracht, Messing, Silber und blauer Stahl schimmerten im Schein der Kerzen, und in den Smaragdaugen schien ein fernes Licht zu spielen.
Langsam traten sie an den Altar heran, um sich den stillen Falken genauer zu besehen.
»Ich kannte ihn immer nur stumpf und staubig«, sagte Larmeth leise. »Ein altes, seltsames Ding, das nur gut dafür war, den Platz auf der Hand der Göttin einzunehmen, wenn der wahre Falke durch die Straßen getragen wurde. Aber schaut, wie er glänzt und glitzert …« Sie beugte sich fasziniert vor. »Man kann es jetzt erst sehen, jede Feder, jedes Gelenk ist in fein geschliffenen Rubinen gelagert. An Kunstfertigkeit übersteigt dies bei Weitem alles, was ich je gesehen habe; auch den anderen Falken, wieso habe ich das nur nie erkannt?«
Die anderen Priester hatten sich den Vogel ebenfalls staunend angesehen, überraschenderweise war es Kardinal Rossmann, der nun Larmeth tröstend die Hand auf die Schulter legte. »Weil wir es anders glaubten. Wir haben immer nur den goldenen Falken geputzt, der für die Prozession glänzen sollte; dass dieser hier stumpf und staubig war … es hat uns nicht gekümmert, er war ja nur der Stellvertreter.« Er schluckte und sah zur Göttin hoch. »Manchmal verbirgt sich das wahre Wunder direkt vor unseren Augen.«
Sie mochte den Kardinal noch immer nicht, aber dass er seiner Göttin so treu diente, wie er konnte, daran hegte auch Lorentha keinen Zweifel mehr.
»Darf man näher treten?«, fragte sie höflich, denn im Tempel galt, dass niemand, der nicht im Glauben stand, sich dem Altar weniger als fünf Schritt annähern durfte.
Wieder war es der Kardinal, der sie überraschte.
»Warum nicht?«, meinte dieser. »Schließlich habt Ihr dieses Wunder für uns entdeckt.«
»Ich will ihn mir nur kurz besehen«, lächelte Lorentha und nickte dem Kardinal dankbar zu. »Ich …«
Weiter kam sie nicht, denn als sie vor den Altar trat, wachte der Falke auf, sein Kopf mit den grünen Augen und dem scharfen Schnabel hob sich und reckte sich nach hinten, er breitete seine Schwingen aus und öffnete den Schnabel, und ein Jubilieren wie von einem himmlischen Chor entsprang der verwunschenen Kehle wie einst vor fast genau zweihundert Jahren, als der Falke sein Lied anstimmte und mit Schwing und Feder ehrte das junge Paar.
Dass er sich dann anschließend, mit einer Schwinge vor der Brust, auch noch elegant verbeugte, bevor er wieder in seiner alten Position erstarrte, hatte der Schreiber damals wohl vergessen zu erwähnen.
Langsam ging Lorentha auf die Knie, während sich um sie herum der Tempel füllte, mit Menschen, die sie nie zuvor gesehen hatte, lächelnd oder ernst, doch alle feierlich und würdevoll. Neben ihr kniete in Gold und Weiß ein junger Mann, der sie mit verlegener Schüchternheit und einem lieblichen Lächeln ansah, als gäbe es sonst nichts auf dieser Welt, was ihm noch wichtig war. Dort vor ihr stand der Falke und sah mit schief gelegtem Kopf auf sie herab, und dort, auf dem silbernen Band an seiner linken Kralle, wo bei einem lebenden Falken der Name des Eigners stand, sah sie, tief in das Metall geprägt, das geflügelte Pferd, das Wappen, das ihre eigene Familie schon seit Anbeginn geführt hatte.
Ein Hand
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