Der Falke von Aryn
Schwester etwas zur Seite. »Deshalb sind wir hier. Können wir die Tempelarchive einsehen?«
Sie seufzte.
»Ich habe mich wegen der ganzen Sache schon mehrfach über unsere Glaubensgesetze hinweggesetzt, doch die Archive sind heilig, ich darf euch nicht dort hinunterlassen. Wenn ich es täte, würde man es mir zum Vorwurf machen.«
»Ist es verboten, die Texte einzusehen, oder nur, das Archiv zu betreten?«, fragte Lorentha.
»Es kommt mir jetzt gerade fürchterlich ungelegen«, sagte Larmeth und wies auf die Priester hin, die etwas weiter weg über irgendetwas zu diskutieren schienen. »Aber …« Sie seufzte erneut. »Was wollt ihr einsehen?«
»Alle Aufzeichnungen über die Verhandlungen zwischen dem Kaiserreich und Manvare hinsichtlich der Mitgift«, sagte Raphanael.
»Alles darüber, wie der Falke hierherkam«, ergänzte Lorentha.
»Ich kümmere mich darum.« Die Priesterin tat eine eher hilflos wirkende Geste hin zu dem Tempeltor und den Häusern auf der anderen Seite des Platzes. »Habt ihr etwas über das Mädchen herausfinden können?«
»Nicht viel. Wir hörten nur, dass jemand sie in einer der Gassen dort erschlagen aufgefunden hätte.«
»Göttin«, hauchte Raphanaels Schwester. »Es endet oftmals so, aber es trifft mich immer wieder, wenn ich davon höre. Wisst ihr, wer es gewesen ist?«
Raphanael kratzte sich am Kopf. »Es gibt eine Beziehung zwischen dem Falken und dem Hurenhüter Lesren«, sagte er dann und berichtete ihr von dem Wagen des Totengräbers und davon, was Raban herausgefunden hatte. »Vielleicht war es dieser Lesren, zuzutrauen wäre es ihm wohl.«
»Werdet ihr ihn zur Rechenschaft ziehen?«
Lorentha nickte mit steinerner Miene. »Ganz sicher.«
Larmeth schaute zu den anderen Priestern hin und seufzte. »Nun, sie können ja noch etwas diskutieren.« Sie wies mit der Hand auf die Reihe der Bänke. »Setzt euch, es wird eine Weile dauern, bis ich die Texte gefunden habe. Es bliebe Zeit genug für ein Gebet«, fügte sie bedeutungsvoll hinzu.
»Was sagt der Glaube der Isaeth eigentlich aus?«, fragte Lorentha leise, als sie sich neben Raphanael auf die vorderste Bank setzte. Von dort aus konnte man die Göttin und den metallenen Schimmer des falschen Falken gut sehen, und es schien ihr, als würde die Göttin ihr zulächeln.
»Die lange oder die kurze Form?«
»Wenn es eine kurze gibt, dann diese«, meinte Lorentha.
»Die Lehre Isaeths sagt, dass wir nicht in diese Welt gekommen sind, um allein zu sein, sondern dass das Glück im Miteinander liegt und die Gaben des Einzelnen dazu bestimmt sind, sich mit den Gaben anderer zum Wohle aller zu ergänzen«, sagte Raphanael. Er lächelte. »Ein Zitat. Es gibt noch mehr, die es kurz haben wollen. Es geht noch kürzer: Gemeinsam sind wir stark.« Er schaute kurz zu dem Standbild der Göttin hinauf. »Ihre Regeln ergeben Sinn. Sie sagt, dass der Herr verpflichtet ist, den Diener entsprechend seiner Gaben zu unterstützen und die, die schwach sind oder im Dienst an ihrem Herrn schwach wurden, alt oder ergraut, zu versorgen.«
»Kürzt das nicht die Privilegien des Adels?«, fragte Lorentha überrascht.
»Nein«, sagte Raphanael. »Es nimmt uns nur mehr in die Pflicht.« Er lehnte sich in der Bank zurück und sah sich gedankenverloren in dem Tempel um. »Der Unterschied ist eigentlich nur der, dass unser Adel verpflichtet ist, dafür zu sorgen, dass der Ärmste unter uns noch leben kann und ein Dach besitzt.« Er sah sie prüfend an. »Ihr wollt doch deswegen nicht noch einmal mit mir streiten?«
»Nein«, sagte sie leise. »Ich habe lange genug Elend erfahren, um diese Einstellung zu würdigen. Aber Aryn ist vom Glauben her doch Isaeths Stadt. Hier steht der größte Tempel der Göttin. Die meisten beten zu ihr, aber dem Elend gebietet es wenig Einhalt.«
»Vielleicht schon«, sagte Raphanael nachdenklich. »Ich glaube, die Armut hier ist nicht so groß wie an anderen Orten. Aber du hast recht, es gibt noch Elend und Verzweiflung. Graf Mergton könnte mehr für die Armen tun, aber er sieht die Notwendigkeit dazu nicht. Es ist leichter, sie zu übersehen, die Armen haben niemand, der für sie spricht.«
»Auch an anderen Orten ist es so«, stellte sie leise fest. »Es heißt meist, es sei der Götter Wille.«
»Das ist der Unterschied«, sagte Raphanael mit einem Blick zur Göttin hin. »Sie sieht es anders, und wenn sich jeder an das, was sie uns vorgibt, halten würde, wäre die Welt ein besserer Ort.« Er zuckte die
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