Der Falke von Aryn
auf dass Frieden sein soll in den Straßen.‹ «
»Das deckt sich mit dem, was Raban sagt, dass der Falke erst nach dem Aufstand zum Tempel gebracht wurde«, sagte Lorentha nachdenklich. »Aber dann passt trotzdem etwas nicht.«
»Wieso?«, fragte Raphanael.
»Hier. Das Protokoll der Hochzeit. Prinz Pladis hält eine Rede. ›Mir ist treust myn gut Freund und Kampfkumpan, von dess Ehr ich Kündniss geben will, er ist myn Falke, führt mir die Jagd und wyrd Pate syn für myn Weib und Kind, als Pfand für syn Ehr stehet dieser Falconys, in Kunst und Künsten groß, das Volk, das Land, die Stadt und all, das sich myn Weib jetzt beugt, zu bewachen immerdar, der heilig ist myn Weib, der Göttin und dem Land.‹ «
»Götter«, fluchte Raphanael. »Was, bei allen Höllen, sagt er da?«
»Warte«, bat Lorentha ihn leise. »Hier steht: ›So brachten vier Diener den Falken vor, ein Wunderwerk von Kunst und Künsten, und stellten ihn vor den Altar. Als Prinz und Braut vor ihm gekniet, darauf der Vogel sein Lied anstimmt und mit Schwing und Feder ehrt das junge Paar.‹ «
»Von Kunst und Künsten«, wiederholte Raphanael leise. »Von Kunst und Künsten. Ich habe das schon einmal so gehört. Oder gelesen.«
Lorentha sah mit großen Augen hin zu ihm, dann zog sie langsam ihren Dolch aus der Scheide und legte ihn auf die alten Blätter. »Siehst du hier die Punze des Schwertschmieds unter dem Heft?«, fragte sie ihn leise. »Es ist schwer zu lesen, so klein, wie es ist. In Kunst und Künsten zur Ehr geschmiedet. «
»Die Kunst des Schwertschmieds und die Kunst der Magie«, sagte Raphanael. Er schaute sie mit großen Augen an. »Im Protokoll steht, dass der Falke schrie und die Schwingen ausgebreitet hat. Ein Mechanicus vielleicht?«
»Oder ein Artefakt«, sagte Lorentha leise. »In Kunst und Künsten groß.«
»Aber dann müsste es zwei Falken geben«, protestierte er.
»So ist es doch auch«, sagte die Hohepriesterin der Isaeth leise, die unbemerkt die Gebetszelle betreten hatte. »Es gibt zwei Falken.« Sie holte tief Luft. »Der eine ist aus massivem Gold, mit Juwelen und Edelsteinen verziert. Der andere aus Messing und Stahl, nur seine Augen sind dunkle Smaragde. Aber dieser Falke ist in jeder Feder einzeln gefertigt, jedes Glied, jedes Gelenk treu nachempfunden, sodass man ihm die Flügel spreizen kann oder sie ihm eng anlegen.« Sie war bleich geworden. »Seit Jahrzehnten halten sich die Gerüchte, dass der Falke sich in seiner Kiste bewegen würde, man legt ihn hinein, aber wenn man die Kiste öffnet, sitzt er da, mit seinem Kopf unter dem Gefieder, als ob er schlafen würde. Wir dachten immer, es wäre ein Streich der Novizen. Als ich ihn das letzte Mal aus der Kiste nahm, die zuvor fest zugenagelt wurde, saß er auch anders da, als ich ihn gebettet hatte.« Sie sah die beiden mit großen Augen an. »Kann es sein, dass wir den falschen Falken ehrten?«, fragte sie dann. »Dass sich sogar unsere Priester haben von Gold und Glanz blenden lassen und wir das wahre Wunder vergessen haben?«
Raphanael runzelte die Stirn. »Haben die Drahtzieher das Seil bereits gebracht?«
Seine Schwester nickte.
»Dann lasst uns diesen Vogel ansehen«, entschied er.
»Jetzt?«, fragte sie entgeistert. »Mitten in der Vorbereitung zur Weihe?«
»Ja«, sagte er bestimmt. »Genau jetzt. Oder weißt du einen besseren Zeitpunkt dafür?«
Schweigend sahen Lorentha und Raphanael zu, wie drei der jüngeren Priester und ein Novize den Falken von der Hand der Göttin lösten. Es zeigte sich, dass Kardinal Rossmann darin recht behielt, es war ein langwieriger und schwieriger Prozess und nicht ganz ungefährlich. Zuerst wurde der Novize von dem Kran in die Höhe gezogen, mit einem Fuß in einer Schlaufe, um von dort aus vorsichtig auf den Arm der Göttin zu klettern … tief unter ihm der tödliche Zaun, der schon einen Novizen das Leben gekostet hatte. Dann wurde einer der Priester nach oben gezogen, und gemeinsam lösten sie einen Bolzen, der den Falken hielt, und hingen den Vogel an einem Haken ein. Der auf dem Arm hob den Falken an, immer in Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren, und schwang ihn herum, erst dann konnte der Falke abgelassen werden. Er mochte keine dreiunddreißig Pfund wiegen wie der goldene Falke, aber so, wie die Priester sich mühten, war er schwer genug. Erst als alle wieder sicher am Boden waren, hörte man ein gemeinsames Aufatmen.
Zuerst stellten sie den Falken vor dem Altar hin, doch dann sah Raphanael, wie
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