Der Falke von Aryn
sprechen uns morgen wieder.«
Er sah Sturgess in der Menge stehen und den nachdenklichen Blick, mit dem der alte Mann ihn bedachte. Warum hatte sich Loren für ihn eingesetzt? Das nächste Mal würde er sie danach fragen. Er wandte sich dem Spielmann zu.
»Spiel auf«, befahl er dem Mann. »Und für den Rest von euch, trinkt, lacht und lasst es euch schmecken!«
Und jetzt, dachte er grimmig und winkte Hinnes heran, zurück zu diesen verdammten Seidenballen.
Die Gräfin
6 Sie kannte dieses Haus, dachte Lorentha und blieb nahe der Laterne stehen, um die weite Fassade zu bewundern. Vor allem die vier steinernen Dämonen, die die obere Dachkante zierten, kleine geschuppte Biester mit Klauen und Hörnern. Sie erinnerte sich daran, dass sie sich als Kind eingebildet hatte, dass sie sich bewegen würden, ihr mit glühenden Augen hinterhergesehen hatten. Auch an anderen Dächern konnte man diese steinernen Ungeheuer finden, doch nur an diesem Haus waren sie ihr lebendig erschienen. Raban hatte sie deswegen ausgelacht, aber dennoch hatten sie immer einen weiten Bogen um dieses Haus gemacht.
Gräfin Alessa, die große alte Dame von Aryn. Sie hatte sie einmal gesehen, wie sie aus diesem Haus in eine Kutsche gestiegen war, und so schreckenerregend war sie Lorentha damals gar nicht vorgekommen. Auch wenn sie in einem Haus wohnte, auf dem die steinernen Dämonen für Lorenthas Geschmack etwas zu lebendig waren.
Was vielleicht daran lag, dass Lorentha die alte Dame kannte. Denn ihre Mutter war damals nach Aryn gekommen, um ihre alte Freundin zu besuchen. Langsam ging die Majorin über die Straße zu den breiten Treppen hin, die zum Haus der Gräfin führten, aber noch zögerte sie, den Klopfer zu betätigen, vielmehr lehnte sie sich gegen den Zaun und suchte die Fenster des Gebäudes ab. Nur eines, dort im zweiten Stock, war noch erleuchtet. Vier Fenster weiter, an der Ecke, hatten sie damals gewohnt. In der Erinnerung eines Kindes war Cerline Gräfin Alessa eine kleine, schwarzhaarige Frau, quirlig und mit einem Lachen, das man nur als ansteckend bezeichnen konnte. Jetzt, da sie daran zurückdachte, musste Lorentha lächeln, ihre Mutter war ganz anders gewesen, ruhig und beständig, und doch waren die beiden Frauen allerbeste Freundinnen. Vier Freunde, dachte sie, während sie zu dem Haus hinaufschaute und auf ihrer Unterlippe kaute. Ihre Mutter, ihr Vater, die Gräfin und der Graf. Während ihrer Kindheit hatte Lorentha kaum etwas vom Grafen Mergton gehört, die Gräfin und ihre Mutter hatten jedoch weiterhin Kontakt gehalten, sie war sich nicht sicher, aber es konnte sein, dass die Gräfin sie sogar bei ihnen zu Hause besucht hatte, irgendetwas war damals gewesen, aber das war zu lange her, als dass sie sich daran noch erinnern konnte.
Aber sie erinnerte sich an den letzten Tag hier noch sehr genau. Am Morgen hatte sie die beiden Frauen tief im Gespräch miteinander vorgefunden, in ernster Stimmung. Die Gräfin war mit irgendetwas nicht einverstanden gewesen, hatte das Wort »Verantwortung« erwähnt, worauf ihre Mutter erwidert hatte, dass sie genügend Verantwortung trüge, für Loren und für den Orden.
Lorenthas Meinung nach wusste die Gräfin mehr über jenen verhängnisvollen Tag, als sie in ihren Briefen hatte zugeben wollen. Auch deshalb hatte sie bei der Gräfin angefragt, ob sie bei ihr Quartier beziehen könnte. Ihre Antwort war sehr schnell, direkt mit der Rückpost, erfolgt, und sie sprach davon, wie sehr sie sich freuen würde, Lorentha wiederzusehen. In ihren Briefen an sie und in der Erinnerung der Majorin schien die Gräfin ihr sehr zugetan, alleine deshalb verstand Lorentha nicht, wieso die Gräfin nun dem Gouverneur in die Hände spielte.
Nun, dachte sie und straffte die Schultern. Es gab nur eine Möglichkeit, dies herauszufinden. Sie marschierte die weiten Stufen hinauf, die zu der majestätischen Eingangstür führten, und zog kräftig an der Klingel.
Sie hatte sich schon darauf eingerichtet, länger zu warten, schließlich war es spät, und auch die Bediensteten gingen irgendwann zu Bett, doch die schwarz lackierte Tür wurde aufgezogen, noch bevor sie die Hand von der Klingel nehmen konnte. Durch die offene Tür hatte sie einen Blick auf eine große Halle mit weiten geschwungenen Treppenaufgängen, einen Kronleuchter, der die offene Tür hell erleuchtete, ein glänzendes Parkett und einen älteren, grauhaarigen Mann, dürr und hager, mit ausgeprägter Adlernase, der mit seltener Perfektion
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