Der Falke von Aryn
hatte, um ihn noch berücksichtigen zu wollen.
So wie sie es sah, dachte sie, als sie in dem Trott, den sie bei der Garda gelernt hatte, die lange Straße entlanglief, die zum Tempelberg hinaufführte, hatte sie zwei Dinge zu tun: zum einen, gemäß ihrem Auftrag, diesen Lord Raphanael zu beschützen, damit ihm während seines Aufenthaltes in der Stadt nichts geschah. Dies war ihr offizieller Auftrag, und sie nahm den Eid, den sie geschworen hatte, sehr ernst. Zum anderen: die Mörder ihrer Mutter zu finden.
Es waren keine einfachen Wegelagerer, sondern Attentäter gewesen, die ihre Mutter gezielt und ohne Vorwarnung angegriffen hatten. Ein gewisser Leutnant Mollmer von der hiesigen Garda hatte damals auf Geheiß des Gouverneurs den Mord an ihrer Mutter untersucht, und sie hatte seinen Bericht, nachdem der Herzog ihn ihr zugänglich gemacht hatte, bestimmt über hundertmal gelesen.
Außer dem toten Kutscher und dem Körper ihrer Mutter hatte man keine anderen Toten gefunden, aber genügend Blut, um zumindest auf ein oder zwei Opfer unter den Angreifern schließen zu können. Der Kutscher war zeitgleich von zwei Armbrustbolzen getroffen worden, weitere drei hatten im Innenraum der Kutsche in den Wänden gesteckt. Armbrüste waren jedoch verboten und vor allem eines: teuer. Wenn, wie es aussah, der Angriff mit fünf Armbrustschüssen eröffnet worden war, dann waren es keine einfachen Wegelagerer gewesen. Es gab noch andere Ungereimtheiten, so hatte ihre Mutter eine leichte Verletzung an ihrem linken Arm davongetragen, die auf einen Schwertkampf schließen ließ, gestorben aber war sie an dem Schuss in ihren Rücken.
Schusswaffen und Attentäter ließen darauf schließen, dass der Mörder ihrer Mutter über größere Mittel verfügte, was nahelegte, dass er genau in dem Kreis der Reichen und Mächtigen zu finden sein musste, in dem die Gräfin Lorentha am morgigen Abend einführen wollte.
Ob sie es nun gut mit ihr meinten oder nicht, offenbar waren diese beiden durchaus bereit, Lorentha als einen Köder zu benutzen. Nun, dachte sie grimmig, dieses Spiel kam ihr entgegen, solange sie sich nicht zu sehr von den beiden leiten ließ. Dennoch zog sie es vor, selbst zu entscheiden, wann und wie sie dieses Hornissennest in Aufruhr versetzen würde.
Der Tempel der Isaeth lag auf einem Platz, den schon vor Jahrhunderten die Gläubigen aus dem harten Fels geschlagen hatten, hoch oben über der Stadt, und nur eine lange, gewundene Straße führte hinauf zu ihm. Im Laufe der Jahre hatten sich zwischen den Serpentinen Häuser angesammelt, die sich an den steilen Berghang drückten, eines enger als das andere an und in den Berg gebaut und durch ein Gewirr aus unübersichtlichen Gassen und zumeist Treppen miteinander verbunden.
Manche Gassen waren so eng, dass ein ausgewachsener Mann mit breiten Schultern kaum durch sie hindurchpasste, andere breit genug für kleine Karren; allesamt verwinkelt, bildeten sie einen Irrgarten, in dem sich jeder verlieren konnte, der ihn nicht wie seine eigene Westentasche kannte. Vor allem nachts geschah dies sehr leicht, meist half nicht einmal das Licht einer Laterne, die Gassen ähnelten sich so sehr, dass sie auch keine große Hilfe war, hatte man einmal den Weg verloren.
Schon früh hatten Diebe den Vorteil erkannt, den dieses Gewirr an Straßen ihnen bot, selbst wenn ihnen Stadtwachen dicht auf den Fersen sein sollten, in dem Moment; in dem jemand seinen Fuß in diese Gassen setzte, war die Flucht gelungen, keine Stadtwache hatte es je vermocht, hier einen Flüchtigen zu stellen.
Es dauerte länger, als sie dachte, den Platz zu erreichen, entweder war die Straße länger, als sie es in Erinnerung hatte, oder aber ihre Kondition hatte gelitten, jedenfalls hatte sie die beständig ansteigende, lange Straße gehörig aus der Puste gebracht.
Manchmal, dachte sich die Majorin, als sie an ihrem Ziel ankam, sich vorbeugte und die Hände auf ihre Knie stützte, um nach dem steilen Anstieg wieder zu Atem zu kommen, fragte sie sich, ob es jemanden gab, der die Ironie zu schätzen wusste, dass sich ausgerechnet zu den Füßen einer Göttin, die Gnade und Vergebung predigen ließ, eine der gefährlichsten Gegenden der Stadt befand.
Zwar säumten reiche und prachtvolle Häuser den Tempelplatz, doch die meisten von ihnen besaßen mehr Stockwerke in den Hang hineingebaut, als von hier aus zu sehen waren. Öffnete man dort unten eine Tür, befand man sich mitten im Herzen des Tempelviertels, wo weder
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