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Der Falke von Aryn

Der Falke von Aryn

Titel: Der Falke von Aryn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Schwartz
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wie das Kind, das sie soeben noch gewesen war, voller Verzweiflung und Schmerz, winselnd wie ein Hund, die Arme um sich geschlungen, als ob sie nur so noch Halt finden könnte. Irgendwo, in einem Winkel ihres Verstands, begriff sie, dass dies der falsche Ort war, um weinend zusammenzubrechen und den Schakalen der Nacht ein leichtes Opfer zu geben, aber sie war machtlos gegen den Ansturm der Gefühle, der sie übermannte.
    Auch die nächsten Worte vermochten sie kaum zu erreichen, zu sehr war sie in dem Moment gefangen, denn dies eben war mehr als nur eine Erinnerung gewesen, sie hatte es erlebt, gefühlt, schmeckte noch immer das Blut ihrer Mutter in ihrem Mund, und ob die Verzweiflung nun die eines Kindes oder einer erwachsenen Tochter war, machte keinen Unterschied, denn es war das erste Mal, dass Lorentha weinen konnte, seitdem dies hier geschehen war, zu viele Tränen waren hinter diesem Damm gestaut gewesen, der viel zu lange gehalten hatte und nun unvermittelt brach.
    Wieder hörte sie diese ferne Stimme, und jemand schüttelte sie an ihrer Schulter. Mit Mühe zwang sie sich aufzusehen, darauf zu lauschen, was diese Stimme von ihr wollte. »Könnt Ihr mich hören, Frau?«
    Langsam hob Lorentha den Kopf und versuchte zu sehen, wer sich da besorgt neben sie gekniet hatte. Ein Mann.
    In einem roten Kleid.
    Sie blinzelte, während sie noch immer Blut auf ihren Lippen schmeckte. Ein Gesicht. Offenes dunkles Haar, fein geschwungene Augenbrauen, eine gerade Nase, weite, sinnliche Lippen und darunter … ein spitzer Bart.
    »Ihr seid ein Mann«, stellte Lorentha fest.
    »Ja«, antwortete der andere sichtlich erheitert. »So ist es.«
    »Ihr tragt ein Kleid.«
    »Eine Robe.«
    »Männer sollten keine Kleider tragen«, teilte sie ihm mit.
    »Mag sein«, lachte der andere vergnügt. »Ihr seid eine Frau, und Ihr tragt Hosen. Das ist auch falsch.«
    »Nein«, sagte Lorentha und schüttelte sich wie ein nasser Hund. »Es ist Vorschrift.«
    Der Mann lachte, und in ihr regte sich eine Art Empörung darüber, dass er sie nicht ernst zu nehmen schien, aber selbst das konnte sie nicht aus ihrer Lethargie reißen, die Empörung schwand, und sie fühlte, wie sie nach vorn fiel, nur um mit einem Griff an ihrer Schulter aufgefangen zu werden.
    »Nicht doch«, ermahnte sie der Mann, während er sie stützte. »Ihr erlaubt?«, fragte er, und bevor sie verstand, was er da tat, spürte sie schon kühle Finger an ihrem Kopf, wo er vorsichtig die alte Narbe hoch über ihrer Schläfe betastete. »Kein Wunder, dass Ihr benommen seid, Ihr habt dort eine Beule, so groß wie ein Hühnerei, hat Euch jemand niedergeschlagen?«
    Das war falsch. So war das nicht. »Nein«, widersprach sie, während sie mühsam ihre Gedanken zu sammeln versuchte, nur dass sie ihr immer wieder entglitten. »Es war ein Schuss. Er traf uns beide«, brachte sie hervor und öffnete mühsam die Augen, nur um staunend auf die Frau herabzusehen, die vor ihren Knien lag.
    Eine Frau mit blonden, langen Haaren, die sich noch im Tod schützend um ihr Kind krümmte, die goldene Spange, die ihr den Schleier gehalten hatte, lag nun in einer Pfütze von Blut, das langsam zwischen den Pflastersteinen versickerte. Sie trug ein elegantes schwarzes Kleid und darüber einen dunklen Umhang, in dem deutlich das Loch zu sehen war, das die Kugel in den Stoff gerissen hatte.
    Der Mann im Kleid kniete mit einem Bein in ihr.
    »Geht da weg«, sagte sie. »Ihr kniet in meiner Mutter.«
    Seine Augen weiteten sich, und wäre Lorentha mehr bei Sinnen gewesen, hätte sie sich vielleicht gewundert, dass er ihr glaubte.
    »Hier?«, fragte er vorsichtig und tastete in ihrer Mutter herum, und Lorentha gab ein leises Stöhnen von sich, als seine Hand im Kopf ihrer Mutter verschwand.
    »Nicht!«, rief sie verzweifelt. »Ihr greift ihr in den Kopf!«
    Er rutschte hastig etwas zur Seite weg. »Besser?«
    Sie nickte erneut.
    »Was seht Ihr?«, fragte er sanft.
    »Meine Mutter. Sie ist tot«, sagte sie mit der Stimme eines kleinen Kindes. »Er hat ihr in den Rücken geschossen, als sie versuchte, mich zu beschützen.«
    »Wie alt seid Ihr?«, fragte er mit einer sanften Stimme.
    »Ich werde in sieben Wochen neun.«
    »Das ist zu lange her«, sagte er eindringlich. »Ihr müsst sie loslassen, bevor Ihr Euch verliert!«
    »Nein. Ich will nicht.«
    »Ihr müsst!«
    Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte vergessen, wie ihre Mutter ausgesehen hatte. Es war an beiden Orten dunkel, aber sie konnte erkennen, dass das

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