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Der Falke von Aryn

Der Falke von Aryn

Titel: Der Falke von Aryn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Schwartz
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Teil der Übereinkunft war gewesen, dass diese Kutschen nicht angetastet wurden, man würde sich dabei nur ins eigene Fleisch schneiden. Ihre Mutter musste das gewusst haben, denn sie hatte ihre Kutsche hier halten lassen. Sie hatte die Lampen in der Kutsche ausgeblasen und sich den Schleier ins Gesicht gezogen … und gewartet; jemand hatte sie an diesem Ort treffen wollen.
    Langsam drehte sich Lorentha um ihre eigene Achse und ließ ihren Blick über die dunklen Schatten und die hell erleuchteten Häuser gleiten. Warum hier, fragte sie sich, zu solch später Stunde? Warum hatte ihre Mutter sie aus dem Bett geholt und hastig angekleidet, sie an diesen Ort gebracht? Evana Sarnesse hatte ihre Waffen mit sich geführt, Lorentha erinnerte sich daran, dass sie das Schwert ihrer Mutter auf der anderen Bank der Kutsche hatte liegen sehen, aber ganz offensichtlich hatte ihre Mutter keine Gefahr befürchtet.
    Ihre Mutter hatte ihr eine Geschichte erzählt, um sie abzulenken, während sie hier gewartet hatten, etwas, was sie öfter getan hatte, wenn Lorentha zu unruhig gewesen war. Doch diese Geschichte hatte sie nie beenden können. Maskierte Männer, fünf mochten es gewesen sein, hatten die Kutsche angegriffen, kein Raub, wie manche angenommen hatten, und auch keine Entführung, denn sie hatten sofort mit Armbrüsten geschossen, deren Bolzen ihre Mutter mit einer Hand zur Seite geschlagen hatte, als sie Lorentha in den Fußraum zwischen den Bänken gedrückt hatte.
    Langsam griff die Majorin an ihre Wange, dort war es, als ob sie noch das Blut spüren konnte, warm, fast heiß, das sie besudelt hatte, als Dolch und Schwert ihrer Mutter hell gleißten und der Erste ihrer Mörder auf dem leuchtenden Stahl ein Ende fand … und durch die Kutschentür auf Lorentha fiel, um sie unter sich zu begraben.
    Außer dem seltsamen Singen ihrer Waffen, gepresstem Stöhnen und keuchenden Atemzügen hatte keiner der Kämpfenden einen Laut von sich gegeben, nicht ihre Mutter, nicht die, die sie angegriffen hatten. Es war, als hätte die Nacht jeden anderen Laut verschluckt. Sie erinnerte sich nur daran, wie Stahl auf Stahl prallte, an dieses reißende, nasse Geräusch, das entstand, wenn eine Klinge in Fleisch eindrang, bis, nach einer Ewigkeit, in der sie zitternd vor Angst unter dem Attentäter begraben lag, während ihr sein Blut aufs Gesicht tropfte, endlich die Kampfgeräusche aufhörten und sie ihre Mutter ihren Namen rufen hörte.
    Während sie still und mit geschlossenen Augen dastand, spürte sie, wie ihr Puls zu rasen begann, zum ersten Mal reichte ihre Erinnerung weiter als an diesen Punkt, an dem sie zuvor so oft verzweifelt war. Sie konnte die Stimme ihrer Mutter fast hören, fast fühlen, wie der tote Attentäter, unter dem sie begraben gewesen war, von ihr gezerrt wurde.
    »Sch«, hörte sie ihre Mutter sagen. »Es ist alles gut, es ist vorbei.« Sie sah sie jetzt, wie sie ihr Schwert zur Seite legte und ihre Tochter in die Arme nahm und fest an sich drückte. »Es ist vorbei«, wiederholte sie flüsternd, während sie sich langsam umdrehte, wohl weil sie versuchte, ihre Tochter vor dem Anblick der toten Attentäter zu schützen, die wie verstreute Puppen um die Kutsche herum lagen … und vor dem Anblick von Jens, dem alten Kutscher, der zusammengesunken auf dem Kutschbock saß, ein alter Mann mit einem freundlichen Wesen, der ihr erst am Tag zuvor ein selbst geschnitztes hölzernes Pferd geschenkt hatte. Sie sollte nicht die Toten sehen, das Blut, das von Jens’ lebloser Hand auf die Pflastersteine tropfte …
    Eine Stimme versuchte, sich in ihre Erinnerung zu drängen, doch sie wehrte sie ab, hielt an dem fest, was sie zum ersten Mal seit damals erinnerte und sah … und hörte schwere Schritte, dann die Stimme ihrer Mutter.
    »Ihr seid zu spät«, hatte sie dem anderen vorgeworfen. »Ihr braucht nicht zu glauben, dass ich vergessen werde, dass Eure Leichtfertigkeit meine Tochter in Gefahr gebracht hat! Wir sind verraten worden und …«
    Was auch immer sie noch sagen wollte, sie kam nicht mehr dazu, sie warf sich herum, brachte sich zwischen diesen anderen und ihre Tochter, ein leises Klicken, zeitgleich ein scharrendes Geräusch und ein lauter Knall und ein harter Schlag, heißes Blut, das ihr in Augen und den zum Schrei aufgerissenen Mund spritzte, und dann … nichts.
    Wieder hörte sie eine Stimme, aber die Worte ergaben für sie keinen Sinn. Sie kniete dort, wo eben noch die Kutsche gestanden hatte, und sie weinte

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