Der Falke von Aryn
sie auch nicht erwartet. »Hast du jemanden da draußen, der ihr folgt?«
Er schüttelte den Kopf.
»Und warum nicht?«, fragte sie etwas schärfer.
»Ganz einfach«, erklärte er gelassen und roch an seinem Branntwein, um dann einen genießerischen Schluck zu nehmen. »Als sie den Palast verließ, habe ich ihr einen Mann hinterhergeschickt. Er sagt, sie hätte ihn schon in der Kerbergasse gestellt, sich einfach umgedreht, ihm direkt in die Augen geschaut und ihm die Wahl gelassen, ihr nicht weiter zu folgen oder auf ihrem Schwert zu sterben.« Er lachte leise. »Er ist ein kluger Mann und entschied, dass er an dem Tag nicht sterben wollte.«
»Dann schicke das nächste Mal jemanden, der besser ist.«
»Oh, er ist gut genug. Nur ist sie besser. Aber wir wissen ja, wo sie hingeht.«
»Wir vermuten es nur«, verbesserte sie ihn.
Er schüttelte den Kopf. »Was würdest du an ihrer Stelle tun? Mergtons Bote fing sie direkt am Schiff ab, bevor sie zu ihm ging, hatte sie also keine Zeit dazu. Danach musste sie rechtzeitig bei dir vorstellig werden. Wo auch immer sie hinging, nachdem mein Mann sie verloren hat, zum Tempelplatz ging sie nicht. Die Strecke ist zu weit, das hätte sie nicht geschafft.«
»Wo meinst du, ist sie hingegangen, bevor sie mich aufsuchte?«
»Ich denke, sie ist am Hafen gewesen, in einer der Tavernen dort. Sie trug den Geruch von Wein, Tabak und Bier auf ihrer Rüstung und in ihrem Haar, dazu noch eine Spur von Tang, aber er roch nichts in ihrem Atem. Sie hat nichts getrunken. Also hat sie sich dort mit jemandem getroffen.«
»Götter«, sagte die Gräfin und schüttelte ungläubig den Kopf. »Du hast eine Nase wie ein Spürhund. Der Hafen wäre auch meine Vermutung gewesen, schließlich wachte sie seinerzeit dort im Hafenbecken auf. Sie wird dort jemanden kennen. Ich wüsste nur zu gerne, wen.« Sie rieb sich nachdenklich die Nase. »Also erinnert sie sich wieder an diese Zeit. Was bedeutet, dass sie sich ebenfalls wieder an den Mörder ihrer Mutter erinnert«, stellte die Gräfin besorgt fest.
»Oder auch nicht«, meinte Tobas nachdenklich. »Ich denke, sie hätte sonst anders reagiert, als Mergton sie zu sich zitierte.«
»Wie das?«, fragte die Gräfin erstaunt.
»Meinst du nicht, sie hätte sich nach dem Mann erkundigt und vielleicht sogar um einen Haftbefehl gebeten?«
»Wohl wahr«, meinte die Gräfin mit einem Seufzer. »Aber aufgegeben hat sie die Suche nicht. Ich nehme an, sie ist jetzt unterwegs hinauf zum Tempelplatz, um sich den Schauplatz des Geschehens anzusehen.« Sie schaute ihn besorgt an. »Bei Nacht ist das eine üble Gegend.«
»Ihr wird schon nichts geschehen«, sagte er nachlässig. »Sie ist Garda, sie kann sich ihrer Haut erwehren.«
»Glaubst du, Lorentha kann dort noch etwas finden?«
Tobas trat ans Fenster und sah in die Nacht hinaus. Von hier aus konnte er den Tempel nicht sehen, aber das brauchte er auch nicht. Er war so oft auf diesem Platz gewesen, hatte nach Spuren und Hinweisen gesucht, dass er ihn sich mit geschlossenen Augen vorstellen konnte. »Nein«, seufzte er. »Ich habe damals jeden Stein umgedreht, und es ist jetzt über zwanzig Jahre her. Aber vielleicht hilft es ihr, sich daran zu erinnern. Ich an ihrer Stelle würde es versuchen.«
Hätte die Majorin, die zur gleichen Zeit wie ein Schatten durch die Nacht streifte, von dem Gespräch gewusst, sie wäre nicht überrascht gewesen.
In einem aber hatte der Graf recht. Es gab eine Verschwörung. Selbst Jahre nach dem Tod ihrer Mutter hatte sie noch ihre Opfer gefordert. Nachdem Lorentha damals in die Garda eingetreten war, war sie nicht viel später dem Kommandanten der Garda, Herzog Albrecht, aufgefallen. Er war um einiges älter als sie und hatte erwachsene Kinder, die bereits älter waren als Lorentha. Zuerst war er ihr nur ein väterlicher Freund gewesen, dann Mentor und Vertrauter. Sie war sich damals durchaus im Klaren darüber gewesen, dass der Herzog ursprünglich nur ihre Jugend und Schönheit und vielleicht auch ihre anfängliche Naivität als ansprechend empfunden hatte, doch dann schien er sich daran erfreut zu haben, dass sie äußerst wissbegierig war und alles lernen wollte, das er sie lehren konnte.
Zu diesem Zeitpunkt war er schon Ende vierzig gewesen. Seit seiner frühesten Jugend hatte er sich für seinen älteren Bruder Heinrich, den Kaiser, der Probleme angenommen, die ihn und das Reich bedroht hatten. Sein Erfahrungsschatz war gewaltig, und während seine Kinder, Prinz
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