Der Falke von Aryn
geht über einen entschieden peinlichen Moment, dachte sie etwas zerknirscht, um das Eis zu brechen. Abgesehen davon hatte er recht. Es war schon sehr spät, und würde sie darauf beharren, zu Fuß zu gehen, konnte es leicht geschehen, dass das Mädchen kam, um sie zu wecken, bevor sie noch das Haus der Gräfin erreichte.
»Erklärt mir noch eines«, bat sie ihn und wies mit einer Geste auf die Göttin. »Wenn der Falke doch gestohlen wurde, wie kommt es, dass ich ihn dort oben sehe? Oder ist er gar nicht fort?«
»Doch, ist er«, sagte seine Lordschaft grimmig. »Dass Ihr dort einen Falken seht, ist einfach zu erklären. Vier Tage vor der Prozession holt man üblicherweise den Falken von dort oben herunter, um ihn für seinen Weg durch die Stadt zu säubern und zu polieren. Während dieser Zeit trägt die Göttin einen anderen Falken, damit die Gläubigen ihn nicht vermissen, und diese Kopie ist es, die Ihr seht. Dieser Falke ist aus Messing und Stahl geformt und nur schwer mit dem anderen zu verwechseln. Wäre es heller, könntet Ihr es sogleich sehen.«
»Wenn es jeder sehen kann, warum sich die Mühe geben?«
Raphanael schaute zu der Göttin hoch. »Die Gläubigen sollen wohl denken, dass der goldene Falke schon für die Prozession vorbereitet wird. Die Täuschung kauft uns nur Zeit bis zur Prozession, spätestens dann wird der Schwindel auffliegen.« Er berührte sie leicht am Arm und stand auf. »Kommt, ich erzähle Euch den Rest auf dem Weg zur Gräfin. Es ist eine grimmige und blutige Geschichte.«
»Blutig?«, fragte sie überrascht, während sie ihm aus dem Tempel folgte. Er blieb vor einer Kutsche stehen, die etwas abseits des Tempels stand und von einem sorgsam aufeinander abgestimmten Vierergespann gezogen wurde. Eines der Pferde hob seinen Kopf, als sein Herr an die Kutsche herantrat, die anderen drei Pferde schliefen im Stehen. Auch der Kutscher hatte sich in seinen schweren Mantel gehüllt, den breitkrempigen Hut tief ins Gesicht gezogen, und schien zu schlafen. Auf dem Kutschbock neben ihm lag eine gespannte mittlere Armbrust, die Spitze des Bolzens glitzerte gräulich im Licht der Laternen. Seine Lordschaft klopfte mit dem Knöchel seiner linken Hand gegen das Holz des Kutschenaufbaus.
»Aufwachen, Kastor«, rief Lord Raphanael fröhlich, was den Kutscher zusammenzucken und nach seiner Armbrust greifen ließ. »Ach, Ihr seid’s nur, Eure Lordschaft«, sagte er dann erleichtert und schob den Hut zurück, um sich verschlafen umzusehen. »Es ist noch dunkel«, meinte er fast schon vorwurfsvoll. »Wolltet Ihr nicht bis zum Morgengrauen bleiben?« Sein Blick wurde wacher, als er Lorentha in ihrer schwarzen Rüstung sah.
»Wir bringen diese Dame nach Hause«, erklärte Lord Raphanael fröhlich, zog für die Majorin den Schlag auf und hielt ihr die Hand hin, um ihr in die Kutsche zu helfen.
Sie lachte leise. »Danke«, grinste sie, »aber es geht schon.« Bevor er dazu kam, die Treppe auszuklappen, hatte sie sich schon in die Kutsche geschwungen. »Hosen«, lachte sie. »Ihr erinnert Euch?«
»Daran brauche ich mich nicht zu erinnern«, schmunzelte er. »Ich sehe sie vor mir. Kastor«, wandte er sich an den Kutscher. »Zur Gräfin Alessa.«
Er zog die Kutschentür zu und musterte die Majorin, die es sich auf der anderen Bank bequem gemacht hat. So, wie sie da saß, die Beine etwas angezogen, eine Hand auf ihrem Schwert, erinnerte sie ihn an eine Katze.
Die Kutsche fuhr an, sie warf einen letzten Blick auf den Tempel und wandte sich dann ihm zu. »Ihr sagtet etwas von grimmig und blutig«, erinnerte sie ihn. »Wieso das? Ich dachte, man hätte nur den Falken gestohlen?«
Sein Gesicht verhärtete sich, und er schüttelte den Kopf. »Es gab einen Toten. Ein Tempelschüler, ein junger Novize mit Namen Ferdis, man fand ihn am Fuß des Altars. Wusstet Ihr das nicht?«
»Nein«, sagte sie verärgert. »Graf Mergton muss wohl ›vergessen‹ haben, es zu erwähnen.«
»Es kann sein, dass er es nicht wusste. Der Tempel tat alles, um den Vorfall geheim zu halten.«
»Wie kam der Novize zu Tode?«
»Habt Ihr den kleinen Zaun gesehen, den man um das Podest der Statue errichtet hat?« Sie nickte.
»Es gibt ein kleines Tor darin, es stand zum Teil offen, und darauf fand man ihn, vorneüber, auf eine der stumpfen Lanzenspitzen des Zauns aufgespießt. Ferdis war ein kräftiger junger Mann, es hätte einiges an Kraft und Aufwand erfordert, um ihn so fest auf diesen Zaun zu drücken, aber man versicherte
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