Der Falke von Aryn
richten«, fügte Barlin unbewegt hinzu.
Wie nicht anders zu erwarten war. Diesmal seufzte Raphanael wirklich. Er musterte seinen Kämmerer, der ebenfalls müde aussah.
»Hast du die ganze Nacht auf mich gewartet?«
Barlin schüttelte den Kopf und erlaubte sich ein schnelles Lächeln. »Ich habe mir erlaubt, davon auszugehen, dass Ihr länger ausbleiben würdet, und bin früh zu Bett gegangen.«
»Gut gemacht«, lobte Raphanael seinen Diener, der weit mehr als das war. Die beiden Männer waren seit fast dreißig Jahren Freunde, seitdem sie sich auf dem Gut seines Vaters fast einen ganzen Nachmittag lang geprügelt hatten. Worum es damals gegangen war, wusste Raphanael schon gar nicht mehr, doch seitdem hatte Barlin ihn überallhin begleitet. Er war da gewesen, als Raphanael Jesmene zur Frau genommen hatte, hatte mit ihm bei der Geburt seiner Tochter Arin gebangt, neben ihm gestanden, als er sich im Tempel von ihr verabschieden musste, und ihn fünf Tage später sturzbetrunken aus einem Straßengraben gezogen und dazu gezwungen, doch weiterzuleben. Die Anzahl derer, denen Raphanael rückhaltlos vertraute, konnte man an einer Hand abzählen, und Barlin war einer davon.
Barlin war der Sohn des Stallmeisters gewesen, aber Raphanael hatte ihm die Treue gelohnt, der Kämmerer war schon lange sein eigener Mann und war auch an dem Weingut beteiligt, das Raphanael nach dem Tod seiner Frau erworben hatte. Er hatte schon viele Rollen gespielt; hier in Aryn Raphanaels Kämmerer zu geben, war nur ein Hut von vielen, die er schon getragen hatte, und er war nicht halb so unterwürfig, wie er tat.
»Es gibt noch etwas«, sagte Barlin leise. »Der Orden schickte Nachricht, dass Don Amos gesehen wurde, wie er an Bord eines Schiffes mit Ziel nach Aryn ging.«
Raphanael wurde still und tat einen tiefen Atemzug.
»Wann?«
»Vor zwei Wochen schon. Er könnte bereits seit Tagen in der Stadt sein«, antwortete Barlin ruhig, während er seinen alten Freund besorgt musterte. Das letzte Zusammentreffen zwischen dem Aragonen und Lord Raphanael hatte die beiden Freunde fast das Leben gekostet. Der Falke war verschwunden; dass ein Ordensmeister der Bruderschaft just zu diesem Zeitpunkt nach Aryn kam, konnte nur Unheil bedeuten.
Barlin sah zu, wie sich sein Freund sichtlich zusammenriss. Don Amos war ein Problem, dem er sich stellen musste. Nur nicht in diesem Moment.
»Wenn ich das Frühstück wieder auf neun verlege, wo es hingehört …?«, begann Raphanael, und Barlin ließ sich auf das Spiel ein und zwang sich zu einem Lächeln.
»Für diesen Fall, Euer Lordschaft, soll ich Euch ausrichten, dass Eure geehrte Frau Mutter nicht beabsichtigt, Euren lockeren Lebenswandel zu unterstützen, und das Frühstück um sieben Uhr serviert werden wird. Ach, und ich soll Euch daran erinnern, dass dies ihr Haus ist, nur für den Fall, dass Ihr es vergessen haben solltet.«
Hatte er nicht, dachte Raphanael seufzend und bedachte die Uhr an der hinteren Wand mit einem harten Blick. Sonst hätte er dieses dämonische Gerät schon längst entfernen lassen.
»Dann bis sieben«, sagte er ergeben, nickte Barlin zu und ging gähnend die lange Treppe hoch, um noch einen kurzen Blick auf seine Tochter zu werfen. Offenbar war die Nacht soeben kürzer geworden, als zuvor gedacht.
Schnüre, Schleifen, Bänder
10 Das Gleiche dachte auch Lorentha, als das Mädchen sie am frühen Morgen weckte. So tief, wie die Sonne noch stand, konnte es kaum später als zur siebten Stunde sein, und Lorentha fühlte sich, als hätte sie nur für Minuten die Augen geschlossen.
»Wie spät ist es?«, fragte Lorentha müde, als das Mädchen entschlossen an das Fenster trat und die Vorhänge zurückzog.
»Schlag sieben!«, gab die junge Frau strahlend zurück. »Die Sonne scheint, und die Vögel zwitschern!«
Lorentha hätte sich beinahe stöhnend die Decke über den Kopf gezogen, so viel gute Laune am Morgen war ihr nahezu unerträglich.
»Hieß es nicht, das Frühstück wäre um zehn?«, fragte sie unwirsch, während sie sich durch die Haare fuhr.
»Ja«, nickte das Mädchen, eine junge, strohblonde Frau mit einem weiten Gesicht und einem Mund, der nun ein breites Lächeln zeigte. Ein Lächeln, das Lorentha als ansteckend empfand, nur dass sie sich nicht anstecken lassen wollte. »Deshalb müssen wir uns ja sputen!«
»Müssen wir?«, fragte Lorentha unverständig.
»Die Gräfin besteht auf ein gewisses Erscheinungsbild, da der Tag meist so verläuft, wie er
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