Der Falke von Aryn
findest du nicht seltsam?«
Raban zuckte mit den Schultern. »Warum? Die Stadtwache kümmert sich nur um die Feuerwacht und Kleinigkeiten, und die Garda hier ist ein Geschenk der Götter.«
»Ist sie das?«, fragte Mort und nickte befriedigt, als er das richtige Zimmer fand, es war unschwer an dem roten Fleck an der Wand hinter dem Schreibtisch zu erkennen. »Warum?«
»Solange die besoffen in der Gegend herumliegen, können sie nicht stören«, erklärte Raban ungehalten. »Darum.«
Mort blieb stehen und schüttelte den Kopf. »Ordnung und Gesetz sind wichtig, auch für die, die sich nicht daran halten. Denn dann spielen alle nach den gleichen Regeln. Es würde dein Leben sicherer machen, wenn jeder wüsste, dass die Garda auch dann den Mörder jagen würde, wenn einer jemanden wie dich umbringt.«
»Tun sie aber nicht«, grummelte Raban.
»Eben«, antwortete Mort. Er blieb in der Mitte des Raums stehen. »Was siehst du?«
So häufig hatte er noch nicht im Arbeitszimmer eines Bankiers gestanden, meist hatten sie zu viele Wachen und zu gute Schlösser, als dass es sich lohnte, dort einzubrechen, aber so hatte er es sich immer vorgestellt. Holztäfelungen an den Wänden, große Schränke mit Akten, ein großer Schreibtisch und dort hinten in der Ecke eine offenstehende Geldtruhe, die nicht weniger als vier Schlösser besaß. Neben dem Schreibtisch stand ein gepolsterter Sessel, der mit Blut besudelt war, er hatte wohl ursprünglich hinter dem Schreibtisch gestanden, denn dort hatten sich an der Wand Blut, Gehirn und Knochensplitter verteilt. Die Fensterläden waren geschlossen, die Riegel vorgelegt. Obwohl draußen die Sonne schien, war der Raum dunkel und düster, und es roch nach Tod. Raban zuckte mit den Schultern.
»Du bist mir ein rechter Meisterdieb«, grummelte Mort. »Blind wie ein Maulwurf. Schau«, sagte er und wies mit der behandschuhten Hand auf den Schreibtisch und tat dann eine Geste, die den Raum einschloss. »Was siehst du nicht?«
Raban schaute verständnislos drein.
»Unordnung«, sagte Mort. »Es ist alles ordentlich. Nichts wurde berührt, nichts angefasst. Ich sage immer, wer nicht sucht, hat schon gefunden, und wer nichts wissen will, denkt, er weiß schon alles.« Er drehte sich langsam im Zimmer um. »Oder er weiß, dass er nichts finden kann, das ihm nützt.«
»Die Geldtruhe ist leer«, widersprach Raban verärgert. »Zumindest die wurde ja wohl angefasst!«
»Wärest du der Gouverneur und wüsstest, dass dir niemand widersprechen wird, wenn du eine andere Summe nennst als die, die sich in Wahrheit in der Kiste befand, würdest du es liegen lassen?«
»Natürlich nicht!«
»Was uns dann etwas über diesen feinen Herrn, den Grafen, sagt«, meinte Mort. »Nämlich, dass er sich nicht sehr von dir unterscheidet.« Er sah zu Raban hin und rümpfte die Nase. »Nur dass er sauberer ist.«
»Meine Haut ist von Natur aus dunkel!«, begehrte Raban auf. »Ich bin nicht dreckig!«
»Und deine Hosen und dein Hemd wurden auch so geboren? Junge, du stinkst noch nach dem Wein von gestern!«
»Ich wasche mich jede Woche!«, protestierte Raban getroffen. »Ich stinke nicht!«
Mort, der hinter den Schreibtisch getreten war, um sich die lederne Mappe anzusehen, die dort lag, und sie gerade öffnen wollte, erstarrte in seiner Bewegung, ließ die Hand sinken und schüttelte den Kopf. »Ich glaube das nicht«, sagte er wie zu sich selbst und durchbohrte Raban dann mit seinen blassen blauen Augen. »Wieso lasse ich mich auf dich ein und verschwende Atemluft an dich? Junge, du willst nicht lernen!«
»Ihr braucht mich! Und hört endlich auf, mich Junge zu nennen!«
»Wie alt bist du?«
»Vielleicht zweiunddreißig«, sagte Raban und zuckte mit den Schultern. »Was hat das …«
»Ich bin fast hundert Jahre älter als du … Junge«, antwortete Mort knapp. »Überschätze auch besser nicht deine Nützlichkeit.«
»Ja«, knurrte Raban. Hundert Jahre älter? Das konnte Mort einem anderen erzählen. Niemand wurde so alt. »Da Ihr alles besser könnt als ich, wofür braucht Ihr mich denn überhaupt? Götter, Ihr wisst, dass Loren meine Freundin ist! Wenn das, was Ihr tut, Loren hilft, dann helfe ich Euch, auch ohne dass Ihr mich so scheuchen müsst, nur sagt mir endlich …«
»Ich brauche dich als Zeugen«, sagte Mort und klappte jetzt die Ledermappe auf. »Sie wird dir glauben, wenn du ihr von mir berichtest.« Die grauen Augen fixierten Raban auf der Stelle. »Nur ihr. Erwähnst du mich auch
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