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Der Fall Lerouge

Der Fall Lerouge

Titel: Der Fall Lerouge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Èmile Gabroriau
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Ihre Hochzeit ... Na, ich muß mich beeilen. Bis Montag!« Noël dachte mißmutig: Den Halsabschneider habe ich ganz schön in die Irre geführt. Das fehlte mir noch, daß der Graf davon erfährt!
    Es war halb sechs, und Noël schwankte, ob er mit seinem Vater essen oder bei Madame Gerdy bleiben sollte. Konnte er eine Sterbende denn allein lassen?
    Eilig schrieb er ein paar Zeilen an seinen Vater, in denen er ihm mitteilte, Madame Gerdy könne jeden Augenblick sterben, und so müsse er bei ihr bleiben. Er übergab den Brief zur Beförderung dem Dienstmädchen. Da fiel ihm plötzlich ein: Ob wohl Madame Gerdys Bruder Tiber den Zustand seiner Schwester unterrichtet war?
    Er fragte das Mädchen. Das antwortete: »Wenn es nicht geschehen ist, meine Schuld ist es nicht.«
    Â»Benachrichtigen Sie ihn sofort, und lassen Sie ihn suchen, wenn er nicht zu Haus ist.«
    Noël ging in Madame Gerdys Zimmer. Beim Schein der Lampe kümmerte sich die Nonne um die Kranke, ordnete hier etwas, machte dort etwas sauber. Ihr Gesicht war von Zufriedenheit überglänzt.
    Â»Besteht noch Hoffnung?« fragte Noël sie.
    Â»Ich weiß es nicht. Den Priester hat sie nicht erkannt. Er will noch einmal wiederkommen. Aber das Zugpflaster wirkt. Ihre Haut hat sich gerötet. Sicher hat sie schon Empfindungen. Jetzt ist es wichtig, daß sie nicht allein bleibt. Ihr Dienstmädchen will bis eins Nachtwache halten, nachdem der Arzt gegangen ist. Dann löse ich sie ab.«
    Â»Lassen Sie nur. Sie können beide schlafen«, sagte Noël. »Ich finde sicherlich keinen Schlaf und werde die ganze Nachtwache übernehmen.«
    * * *
    T abaret war nicht niedergeschlagen, nachdem seine Vorstellungen bei dem übermüdeten Daburon nichts gefruchtet hatten. Im Gegenteil: Jetzt erst war sein Pflichtgefühl so recht gestachelt. Albert de Commarins Leben stand auf dem Spiel. Da durfte es keine Resignation geben. Schließlich war er es, der den Unschuldigen in diese Lage gebracht hatte, und allein er konnte ihn aus ihr erlösen.
    Als er den Justizpalast verließ, fühlte er, daß auch er müde war und eine Erholungspause brauchte. Jetzt, da die Aufregungen des Tages nicht mehr so hautnah waren, fühlte er sich hungrig. Immerhin hatte er seit dem Frühstück nichts mehr zwischen die Zähne bekommen. In einem Restaurant bestellte er ein ausgesuchtes Menü, und beim Kauen kehrten Tatkraft und Zuversicht in ihn zurück. Nun sah alles nicht mehr so hoffnungslos aus. Er hatte genügend Zeit, und im übrigen vertraute er auf seinen Scharfsinn.
    Schade, sagte er sich, daß ich Albert von meiner Arbeit zu seiner Rettung nicht benachrichtigen kann.
    Mit federndem Schritt verließ er das Restaurant und begab sich in die Rue St-Lazare. Punkt neun Uhr läutete er bei den Gerdys, um sich nach dem Befinden der Dame zu erkundigen, die er einmal so sehr verehrt hatte.
    Noël öffnete ihm, und auf seinem Gesicht lag so viel Traurigkeit, als sei Madame Gerdy seine wirkliche Mutter.
    Da Vater Tabaret wußte, daß er über kurz oder lang mit Noël auf die Ermordung von Madame Lerouge kommen würde, die ihm in all ihren Einzelheiten weit besser bekannt war als dem jungen Mann, nahm er sich vor, von vornherein jede unbedachte Bemerkung, die seine Rolle verraten könnte, zu vermeiden. Jetzt mehr denn je galt es für ihn, vor Noël – demnächst Graf de Commarin – seine Verbindung zur Polizei zu verbergen.
    Madame Gerdys Zustand hatte sich seit dem Nachmittag ein wenig verändert. Ob er sich gebessert hatte, war nicht mit Bestimmtheit auszumachen. Sie schien nicht mehr so stocksteif dazuliegen, wenn auch ihre Augen noch immer starr gegen die Decke gerichtet waren. Ab und zu zuckten die Augenlider, und dann hörte man auch, wie sie sich stöhnend bewegte. Tabaret fragte flüsternd, was der Arzt meine, und Noël erwiderte: »Er meint, sie wird den Morgen nicht mehr erleben.«
    Â»Ein Glück«, murmelte Vater Tabaret, »daß sie nicht weiß, daß ihr wirklicher Sohn unter Mordverdacht gefangen ist.«
    Â»Das ist auch für mich ein Trost«, sagte Noël. »Sie ist für mich noch immer meine Mutter. Ich mache mir die größten Vorwürfe, daß ich sie zweimal sehr hart angefahren und geglaubt habe, ich müßte sie hassen. Im Angesicht des Todes verliert alles Unrecht sein Gewicht. Nur noch meine Liebe zu ihr

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