Der Fall Peggy: Die Geschichte eines Skandals (German Edition)
hilflos ausgesetzt gewesen und geradezu bestürmt worden. Peggys Altersgenossen seien regelrecht gejagt worden. Ständig hätten die Reporter ihnen Regieanweisungen erteilt, was sie vor laufenden Kameras vorführen sollten – etwa mit dem Fahrrad den Schlossberg herunterfahren, auf die Kamera zu, dann an der Kamera vorbei, auf keinen Fall in die Kamera schauen, sondern den Blick suchend nach links und rechts schweifen lassen. Solche Bilder wurden damals tatsächlich in den Boulevardmagazinen der öffentlich-rechtlichen und der Privatsender gezeigt, wobei man den Zuschauern weismachte, die Kinder suchten verzweifelt nach der kleinen Peggy. Manche von ihnen kannten das Mädchen überhaupt nicht. Ein Junge, der Reportern gegenüber erwähnte, er habe Peggy nicht besonders leiden können, sei aber trotzdem traurig, dass sie verschwunden sei, wurde im Fernsehbeitrag so natürlich nicht zitiert. Im Film sah man den Buben beim Gang über den Marktplatz, während eine Stimme aus dem Off kommentierte: »Der kleine X sucht seine beste Freundin.«
»Die wollten eigentlich gar nichts wissen, sondern von uns nur hören, was sie sich selber zurechtgelegt hatten«, hörten wir bei unseren Recherchen mehrfach. Ein Vorwurf, den viele Lichtenberger nicht nur Journalisten machen, sondern auch den Ermittlern. Wieder und wieder seien sie befragt worden, von unfreundlichen und schnöseligen Beamten, die am liebsten gleich den ganzen Ort unter Generalverdacht gestellt hätten. Und am Ende doch, trotz all der Aussagen, ihre ganz eigenen Schlüsse gezogen hätten. »Weil sie einen Sündenbock brauchten«, wie ein Mann mürrisch-resigniert zu uns sagte.
Die ermittelnden Beamten beklagten sich ihrerseits immer wieder bei ihren Vorgesetzten, sie würden gegen eine Mauer des Schweigens laufen, die Leute seien vernagelt, eine verschworene Gemeinschaft, gegen die sie nicht ankämen.
Eine Erfahrung, die wir nicht gemacht haben. Wenige Lichtenberger erteilten uns eine Abfuhr und verweigerten das Gespräch. Nur einmal bekamen wir Vorbehalte deutlich zu spüren. Bei einem unserer Besuche vor Ort beklagte sich eine Metzgersfrau, wir hätten ihr das Geschäft verdorben – weil wir vor ihrem Laden in der Sonne auf einer Bierbank sitzend zu Mittag unsere Wurstsemmeln aßen. Die hatten wir vorher bei ihr gekauft. Ihre Stammkundschaft habe sofort gemerkt, dass da wieder Reporter vor dem Laden sitzen, und deshalb einen Bogen um die Metzgerei gemacht. Das sei ja nicht weiter verwunderlich, schließlich hätten die Lichtenberger damals die abenteuerlichsten Geschichten über sich und ihren Ort in der Zeitung lesen müssen.
*
Der Laden von Kaufmann Langheinrich wird in den Wochen nach Peggys Verschwinden zum zentralen Treffpunkt für Ortsfremde und Einheimische, vor allem, wenn es um den Austausch von Klatsch und Tratsch, das Verbreiten von Gerüchten, Anschuldigungen und Vermutungen geht. Und Gerüchte gibt es viele, die Presse weiß von immer neuen Spuren zu berichten. Mal ist das Kind über die Grenze verschleppt worden, muss dort vermutlich auf dem Strich arbeiten. Dann hat angeblich Ahmet Yilmaz etwas mit seinem Verschwinden zu tun, möglicherweise sogar die Mutter. Dann wieder erfahren die Lichtenberger, sie alle hätten etwas zu verbergen, würden gar einen Kinderpornoring decken.
Dabei wollen sie doch nur helfen. Kaufmann Langheinrich hängt ein Foto von Peggy an die Ladentür, direkt neben den Aufkleber vom Otto-Versand und einer Einladung des Pfarrers, sich in der Kirche zu einem Gebet für die Vermisste einzufinden. Geduldig lassen sie die ganzen Befragungen über sich ergehen, hoffen und bangen. Aber bei einem Ermittlungsmarathon über Wochen und Monate macht sich langsam eine gewisse Ermüdung breit. Die Lichtenberger sind all des Redens und Vermutens überdrüssig. Sie wollen keine Journalisten, keine Kameras, keine Fotoapparate mehr sehen. Und auch keine Polizisten mehr. Zu viele fühlen sich in ihren Aussagen falsch wiedergegeben, über Stunden mit Fangfragen verunsichert. Sie haben nicht länger das Gefühl, etwas zur Aufklärung des Falles beitragen zu können. Im Gegenteil.
Während sich die Lichtenberger also langsam zurückziehen, heizen die Journalisten mit immer neuen Erkenntnissen über Peggy die Spekulationen an. Trotz ihrer Freundlichkeit, Neugier und Aufgeschlossenheit sei sie doch eher ein einsames Kind gewesen, das zu Hause wenig Anerkennung und Ansprache erfahren habe. Möglicherweise sei sie einfach weggelaufen, weil sie
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