Der Fall Peggy: Die Geschichte eines Skandals (German Edition)
besonders attraktiv, er war inzwischen Mitte zwanzig und hatte noch nie eine Freundin gehabt. Nun aber erfuhr die bestürzte Mutter, dass ihr Sohn seine Sexualität anders auslebte – er war entblößt im Ort herumgelaufen und dabei ertappt worden. Fast immer war es Exhibitionismus, wenn Klagen über Ulvis Verhalten kamen. Manche Kinder erzählten, Ulvi habe sie anfassen oder angefasst werden wollen. Gemütskind Ulvi war mit seinem Männerkörper überfordert – besagen die Gutachten, die ihm »psychosexuelle Retardierung« bescheinigen. Das machte ihn zum komischen Kauz. Manche Kinder hänselten ihn und forderten ihn auf, »sein Ding« herauszuholen. Andere lachten ihn aus und liefen davon, wieder andere erzählten ihren Eltern von den Vorfällen.
Im Juni 2000 gab es deswegen zum ersten Mal Ärger. Katja Ludwig hatte Ulvis Mutter angerufen und sich über ihn beschwert. Ulvi habe ihren Sohn vor ein paar Tagen aufgefordert, ihm beim Onanieren zuzugucken. »Bis der Wichs rauskommt«, so habe es Felix ausgedrückt. Dann habe Ulvi seinen »Pipi« wieder eingepackt und dem Buben versprochen, er bekomme »morgen auch was zum Naschen«, aber nur, wenn er seiner Mutter nichts erzähle – was der aber trotzdem tat.
Ulvi musste eine Strafpredigt seiner Mutter über sich ergehen lassen, die er so schnell nicht aus dem Kopf bekam. Dieses Donnerwetter hat ihm wohl auch einen Abend in einer Diskothek in Naila verdorben. An jenem 14. Juni trampte er spät in der Nacht heim nach Lichtenberg. Die Sache mit Felix ließ ihn nicht los, und als er die Telefonzelle am Henri-Marteau-Platz sah, öffnete er die Tür, hob den Hörer ab und wählte den Notruf 110. Es war genau 1.15 Uhr, wie der Beamte notierte. Laut Protokoll sagte Ulvi: »Von meiner Mutter habe ich erfahren, dass Felix die Sache doch zu Hause erzählt hat. Da hatte ich Angst, Felix’ Mutter würde mich anzeigen, und da habe ich lieber selbst bei der Polizei angerufen.« Die Zentrale schickte einen Funkwagen zur Telefonzelle. Dort angekommen, testeten die Streifenbeamten erst einmal Ulvis Alkoholpegel; sie maßen 1,12 Promille. Dann erzählte Ulvi ihnen die ganze Geschichte noch einmal, woraufhin die Polizisten ihn nach Hause schickten – und einen Ermittlungsvorgang anlegten.
Die Landgerichtsärztin und Medizinaldirektorin Astrid Janovsky wurde mit der Erstellung eines Gutachtens zur Frage der Schuldfähigkeit von Ulvi Kulac beauftragt. Hierin bescheinigte sie ihm eine »hirnorganische Beeinträchtigung«, einhergehend mit einer »erheblichen Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit und deutlichen Minderbegabung« sowie »emotionaler und sozialer Unreife sowie Selbstunsicherheit und mangelnder sozialer Kompetenz«. Außerdem, so die Ärztin, sei »zum Vorfallszeitpunkt eine gewisse Alkoholbeeinflussung und ein Zustand nach dem Konsum von Cannabis vorstellbar«. Daher sei »nicht auszuschließen, dass der Beschuldigte im Zustand der Schuldunfähigkeit« gehandelt habe.
Das Verfahren wurde aufgrund dieses Gutachtens am 10. April 2001 eingestellt.
Auch wenn dieser Vorfall zunächst keine juristischen Konsequenzen hatte, scheint er Elsa Kulac aufgeschreckt zu haben. Gleich nach der Beschwerde von Felix’ Mutter hatte sie sich mit der Diakonie in Verbindung gesetzt und Ulvi einige Wochen lang zu einem Therapeuten geschickt.
Danach lebte Ulvi sein gewohntes Leben als wunderlicher Kauz des Ortes, die Lichtenberger schienen sich an seinen Exhibitionismus gewöhnt zu haben, vielleicht gab es aber in der Zwischenzeit auch keine weiteren Auffälligkeiten. Das änderte sich erst im August 2001, ein Vierteljahr nach Peggys Verschwinden.
Es war der 27. August, als Anna Langnickel über den Feldweg zwischen dem Gartenviertel Hermannsruh und dem Lichtenberger Friedhof spazierte. Dort sah sie von hinten zwei Menschen auf einer Parkbank sitzen, bei einem von beiden, dem größeren, hing der Hosenboden zwischen den Beinen. Sie dachte zunächst, dass sich da zwei Jugendliche die Zeit vertrieben und vielleicht heimlich rauchten. Als sie näher kam, erkannte sie Ulvi, und als der sie sah, sei er erschrocken und habe schnell sein Hemd in die Hose gestopft. Frau Langnickel sprach die beiden an, ergriff dann die Hand des Jungen, der ihrer Aussage nach ordentlich bekleidet war, und zog ihn mit sich. Das sei, so die Zeugin, gar nicht so einfach gewesen, der Junge wäre offenbar lieber auf der Parkbank geblieben. Da sie aber schon von Ulvis Exhibitionismus gehört hatte und Schlimmeres
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