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Der Fall Peggy: Die Geschichte eines Skandals (German Edition)

Der Fall Peggy: Die Geschichte eines Skandals (German Edition)

Titel: Der Fall Peggy: Die Geschichte eines Skandals (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ina Jung , Christoph Lemmer
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ungewöhnlichem Detailreichtum zu erzählen.
    Während das Gericht sich ausführlich mit der Unglaubwürdigkeit des Widerrufs befasst, fällt das Unterkapitel »Umstände, die gegen die Glaubhaftigkeit des Geständnisses des Angeklagten sprechen könnten« eher mager aus. Um es gleich vorwegzunehmen – die »Glaubhaftigkeit« wurde weder durch entlastende Zeugenaussagen noch durch Ungereimtheiten beim vermeintlichen Tathergang erschüttert. Und auch nicht durch Widersprüche wie die folgenden: So hatte der Angeklagte bei einer Tatrekonstruktion vom 30. Juli 2002 angegeben, am 7. Mai sei es sommerlich warm gewesen, genau so wie am Tag der Videoaufzeichnung. KHK Grieshammer hatte notiert, dass an jenem Tag im Juli »Temperaturen von 30 Grad Celsius« herrschten. Der 7. Mai aber war ein ungewöhnlich nebliger und kühler Tag gewesen. Ebenso wenig irritierte, dass Zeuginnen wie Claudia Ritter und Hilke Schümann selbst aus einiger Entfernung Peggys Schulranzen hatten beschreiben können – pink, mit einigen Stofftieren dran. Ulvi aber, der den Ranzen nach Peggys Sturz aufgehoben, mit Zweigen bedeckt und unter dem Baum in Schwarzenstein niedergelegt haben will, konnte keinerlei Angaben dazu machen. Und das, obwohl er doch laut Kröbers Gutachten sogar die Flugrichtung des Ranzens hatte angeben können.
    Eine weitere Ungereimtheit: Bei einem seiner drei Geständnisse hatte Ulvi gesagt, er habe Wiederbelebungsversuche gemacht, nachdem sich das Mädchen nicht mehr gerührt hatte. Ganze zehn Minuten lang, er habe extra auf die Uhr gesehen, heißt es im Protokoll. Ulvi trägt aber keine Uhr, er kann sie gar nicht lesen.
    *
    Staatsanwalt Heindl hält am Ende ein mehrstündiges Plädoyer, in dem er jeden Zweifel vom Tisch wischt. »Es ist davon auszugehen, dass Peggy leider tot ist. Alle anderen Annahmen wären schön, haben aber keinen realen Hintergrund.« Die Lichtenberger, die Ulvis Alibi stützten, nennt er »unglaubwürdig« und wirft ihnen vor, sie hätten sich abgesprochen. Das Motiv für den Mord an Peggy sei die vorangegangene Vergewaltigung gewesen. »Der Ulvi hatte Angst, dass seine Delikte öffentlich werden, weil er dann Hausarrest bekommen hätte.«
    Es hätte genügend Ansatzpunkte gegeben, dem Grundsatz »im Zweifel für den Angeklagten« zu folgen. Dennoch merken die Richter an: »Die Überzeugung der Kammer von der Täterschaft des Angeklagten« werde dadurch »nicht erschüttert«.

    Am 30. April 2004, fast drei Jahre nach Peggys Verschwinden, fällt das Urteil gegen Ulvi Kulac. Von dem Vorwurf, Ulvi habe acht Kinder sexuell missbraucht, spricht das Gericht ihn frei – wegen Schuldunfähigkeit. Wegen Mordes an Peggy Knobloch befindet es ihn für schuldig und verurteilt den Angeklagten zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Zugleich ordnet es die Einweisung in eine psychiatrische Klinik an.

    Einziges Beweismittel war das Geständnis, das das Gericht im Prozess zugelassen hatte, obwohl es nur in einem Polizeiverhör abgelegt worden war. Diese Hürde wurde zum einen mit Hilfe von Kröbers Gutachten genommen, zum anderen seien die damaligen Vernehmer als Zeugen aufgetreten und hätten ebenfalls glaubwürdig erklärt, dass Ulvi aus freien Stücken und ohne Druck den Mord gestanden habe. Die Polizei habe keine verbotenen Methoden angewandt, meinen die Richter, das gelte auch für besonders kritische Details – etwa, als die Vernehmer den Beschuldigten unmittelbar vor seinem ersten Geständnis mit der Behauptung konfrontierten, auf seinem Arbeitsoverall seien Blutflecken gefunden worden. Das sei »allenfalls eine unbeabsichtigte Irreführung gewesen«, schreiben die Richter in die Urteilsbegründung, »nicht jedoch eine Täuschung im Sinne des § 136a Abs. 1 StPO«. Auch das Versprechen, Ulvi müsse nicht ins Gefängnis, wenn er jetzt gestehe, sei kein unzulässiges Lockmittel gewesen. Zwar sei das Vorgehen bedenklich gewesen: »Diese Äußerung des Polizeibeamten gegenüber dem Angeklagten war bei objektiver […] ex ante Betrachtung […] unzutreffend.« Aber dem habe keine Absicht zugrunde gelegen. Der Polizist habe zu Recht geglaubt, Ulvi sei für den Mord an Peggy nicht schuldfähig und könne darum nicht ins Gefängnis kommen.
    Den Tötungsvorsatz – Voraussetzung für eine Verurteilung wegen Mordes – begründet das Gericht mit einer rhetorischen Kehrtwende. Denn es lässt zuerst Zeugen zu Wort kommen, deren Aussagen eine Tötungsabsicht eigentlich bestreiten. Wie etwa Ulvis Mitinsasse Fritz Hermann,

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