Der Fall Peggy: Die Geschichte eines Skandals (German Edition)
machte auf mich einen sehr glaubhaften Eindruck.«
Die Aussage dieses Jungen [gemeint ist Jürgen Kohl] deckt sich mit weiteren Zeugenaussagen – die Szene mit der Bäckerei wurde unter anderem von Axel Köster und Jens Schmitt geschildert, allesamt Jugendliche, die das Mädchen kannten, teils sogar mit ihr in die gleiche Klasse gingen. Eine Aussage, die sich darüber hinaus mit Behrendts Äußerungen in der TV-Sendung »Kripo live« deckt, aber nun keine Rolle mehr spielte. Das Gericht indes glaubte diesen Zeugen nicht und begründete seine Zweifel mit der Aussage der Bäckereiverkäuferin Sigrid Burger. Die sagte, sie habe Peggy am 7. Mai nicht im Verkaufsraum gesehen. Ob Burger durchgehend hinter der Auslage stand oder zwischendurch im Hinterzimmer oder auf der Toilette war, wurde nicht erörtert. Die Aussagen einiger Kinder hatten ebendies nahegelegt.
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Abgesehen von der Zeugenvernehmung und der Überprüfung des angenommenen Tathergangs hat das Gericht während des Prozesses zwei grundsätzliche Fragen zu klären: die nach der Schuldfähigkeit des Angeklagten und die nach seiner Glaubwürdigkeit.
Die Frage nach der Schuldfähigkeit beantwortet die Kammer so: Von den Vorwürfen des mehrfachen Kindesmissbrauchs spricht sie Ulvi wegen Schuldunfähigkeit frei. Auch die vorgeworfene Vergewaltigung Peggys bestraft sie nicht. Den Mordvorwurf indes hält das Gericht für angebracht und attestiert Ulvi volle Schuldfähigkeit.
Das klingt kurios, folgt aber den Gutachten und Beurteilungen der Psychiater und Therapeuten, die ihre übereinstimmenden Einschätzungen mit Ulvis Umfeld begründeten.
Ulvi galt im Ort als Sonderling, aber ungefährlich. Sein Hang, immer wieder die Hosen herunterzulassen oder Kinder zu sexuellen Spielen aufzufordern, war ein offenes Geheimnis. Seine Familie, Nachbarn und Freunde mögen ihn dafür gelegentlich gescholten haben, hätten aber offenbar kein ernstes Problem damit gehabt, zitiert das Gericht die Fachleute. Folglich habe Ulvi auch nie ein Unrechts- oder Schuldbewusstsein entwickeln können. Pädophil im klassischen Sinne sei er im Übrigen nicht, sondern vielmehr in seiner sexuellen und charakterlichen Entwicklung zurückgeblieben. Im Grunde sei er innerlich ein Kind, das im Körper eines Erwachsenen steckt. Anders sehe die Sache aus, wenn es um die Tötung eines Menschen gehe. Dass das verboten sei, wisse und verstehe Ulvi, so die einhellige Meinung. Deshalb sei er in Sachen Missbrauch als schuldunfähig anzusehen, für den Mord indes trage er die volle Verantwortung.
Allerdings steckt in dieser Analyse ein schwerer Widerspruch – der bis heute noch nie thematisiert wurde und offenbar im Gerichtssaal nicht weiter auffiel. Die Anklage erklärte den Mord an Peggy als »Verdeckungsmord«: Ulvi habe Peggy vergewaltigt und mit der Ermordung verhindern wollen, dass das herauskommt. Nur, um sie zum Schweigen zu bringen, habe er sie abgepasst. Er habe es zuerst im Guten versucht, aber als Peggy ihn abwies, habe er »ernst gemacht«. Man hätte das auch als Totschlag werten können. Aber: Ulvi, so die Anklage, habe um jeden Preis die angebliche Vergewaltigung vertuschen wollen. Weil er aufgrund von Peggys ablehnender Reaktion keine andere Möglichkeit mehr gesehen hätte, habe er sie vorsätzlich und aus niederen Beweggründen ermordet. Damit war eine Bewertung der angeblichen Tat als Totschlag vom Tisch.
Hier nun aber der Widerspruch: Warum sollte Ulvi mittels eines Mordes eine Tat vertuschen wollen, für die er nicht als schuldfähig galt? Hier hätten sich Anklage und Gericht entscheiden müssen: Entweder weiß Ulvi nicht, dass seine sexuellen Belästigungen verboten sind – dann hätte er keinen Grund gehabt zu morden, um sie zu vertuschen. Oder er wusste es – dann hätte er dafür auch als schuldfähig angesehen werden müssen.
Ganz abgesehen von diesem Widerspruch – den Mord an Peggy konnte man ihm nicht beweisen, jedenfalls nicht, wenn man Sachbeweise gegen Ulvi anführen wollte. Umso entscheidender war die Beantwortung der zweiten Frage. Die nach der Glaubwürdigkeit von Geständnis und Widerruf. Hans-Ludwig Kröber hielt Ulvis Geständnis für glaubwürdig und seinen Widerruf für unwahr. Kröber argumentierte mit der Vielzahl an Fakten, die Ulvi Kulac vor allem während der Videoaufzeichnungen geschildert oder gezeigt hatte. Ulvis Therapeut aus der Bayreuther Klinik sagte indes aus, sein Patient habe die auffällige Neigung, auch frei erfundene Geschichten mit
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