Der Fall Peggy: Die Geschichte eines Skandals (German Edition)
Gericht machen kann: »Auch kann der damalige Polizeibeamte als Zeuge über das damalige Geständnis vernommen werden«, heißt es. Eine Regel, die stillschweigend davon ausgeht, dass Polizisten immer die Wahrheit sagen. Es reicht, dass ein Polizist dem Richter erzählt, was der Beschuldigte ihm gestanden hat.
Tatsächlich lud die Jugendkammer, die über Ulvi zu Gericht saß, die damaligen Polizisten als Zeugen, die dann auch ausführlich das Geständnis nacherzählten und hinzufügten, dass sie es für glaubwürdig hielten. Aber die Hofer Richter wollten sich ihrer Sache ganz sicher sein, weshalb sie zusätzlich den Gutachter Kröber als Zeugen im Prozess befragten. Dessen Job hatte ja darin bestanden, zu erforschen, an welchen Stellen Ulvi die Wahrheit gesagt hatte und wo nicht.
Am 25. Januar 2005 kam die Antwort der 1. Strafkammer des Bundesgerichtshofs. Sie bescheinigte dem Hofer Landgericht, dass das Urteil auf juristisch korrekte Weise zustande gekommen sei. »Die Beweiswürdigung, insbesondere die Würdigung des Geständnisses des Angeklagten, ist rechtsfehlerfrei«, schrieben die Bundesrichter ohne weitere Begründung. Mehr Worte verloren sie über die Frage, ob das Gericht das Gutachten von Professor Kröber korrekt verwertete, nicht, denn so ein Fall gehörte bisher nicht zum Standardrepertoire der Strafgerichte. Eigentlich sei es allein die Sache der Richter, zu beurteilen, ob eine Aussage stimme oder nicht. »Vom Richter wird erwartet, dass er über die zur Ausübung seines Amtes erforderliche Menschenkenntnis und Fähigkeit verfügt, Aussagen auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen«, stellten die BGH-Richter fest. Wenn aber ausnahmsweise in einem Einzelfall »eine außergewöhnliche Sachkunde« vonnöten sei, dürfe sich das Gericht helfen lassen. Im Fall von Ulvi Kulac sei das so, und zwar wegen dessen zurückgebliebener Psyche. »Um die Glaubhaftigkeit der Geständnisse bzw. des Widerrufs und der Angaben in der Hauptverhandlung verlässlich prüfen zu können, war der Einsatz sachverständiger Hilfe sachgerecht.«
Leicht überspitzt gesagt stellen die Bundesrichter also fest, der Gutachter habe irgendwie Ulvis Gedanken lesen können, denn anders wäre kaum »verlässlich« zu ermitteln gewesen, wo er die Wahrheit gesagt hatte und wo nicht.
Für Ulvi Kulac bedeutete diese Entscheidung, dass das Urteil des Hofer Landgerichts rechtskräftig und er damit endgültig zu lebenslanger Haft verurteilt war. Und es bedeutete auch, dass der Fall Peggy endgültig abgeschlossen war. Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass ein anderer das Mädchen getötet hatte oder Peggy lebend wieder auftauchen würde, müsste zuerst ein anderes Gericht – in diesem Fall das OLG Bayreuth – eine Wiederaufnahme des Prozesses genehmigen und dann das Verfahren mit Hilfe der neuen Beweismittel noch einmal von vorn aufgerollt werden. Bis zum Abschluss dieses Verfahrens würde Ulvi weiterhin einsitzen.
Auch spätere Revisionsentscheidungen des Bundesgerichtshofs in anderen Fällen änderten daran selbstredend nichts – obwohl die eine oder andere dabei war, die nahelegt, dass der Einspruch gegen das Peggy-Verfahren auch anders hätte ausgehen können. Vor allem die Revision im Pascal-Verfahren kommt zu teilweise drastisch anderen Schlussfolgerungen. Der damals fünfjährige Pascal Zimmer war im September 2001 – ein halbes Jahr nach Peggy – ebenfalls spurlos verschwunden, und zwar im Saarbrücker Stadtteil Burbach. Bis heute gibt es keine Spur von ihm, auch eine Leiche wurde nie gefunden. Pascal war nach einem Kirmesbesuch nicht nach Hause gekommen. Wie im Fall Peggy wurde auch Pascal von Polizeihundertschaften mit Hunden, unterstützt von Bundeswehr-Jets mit Wärmebildkameras, gesucht. Im Laufe der Ermittlungen ging die Polizei dem Verdacht nach, die Wirtin der Burbacher »Tosa-Klause« habe mit mehreren Stammgästen einen Ring für Kinderprostitution und -pornographie aufgezogen. Der Junge sei in einem Hinterzimmer der Kneipe missbraucht und getötet worden, so die Vermutung. Am Ende standen acht Männer und vier Frauen vor Gericht, die dabei mitgemacht haben sollen. Fast alle hatten gestanden, einige auch im Prozess vor Gericht. Dann aber geriet das Verfahren ins Stocken. Polizisten standen unter Verdacht, Geständnisse unter Zwang erpresst zu haben. Beweismittel gingen verloren, und zwar derart zahlreich, dass am Ende kein einziger Sachbeweis übrig blieb und die Frage im Raum stand, ob es je welche gegeben habe. Auf
Weitere Kostenlose Bücher