Der Fall Peggy: Die Geschichte eines Skandals (German Edition)
ehemalige Rechtsanwaltsgehilfin Gudrun Rödel, die rund dreißig Kilometer entfernt von Lichtenberg wohnt. Sie kannte Ulvi Kulac nicht persönlich, hatte aus der Zeitung vom Prozessgeschehen und dem anschließenden Urteil erfahren. Als Mutter einer behinderten Tochter war sie zunächst vor allem empört darüber, wie Presse und Justiz mit einem geistig behinderten Menschen umgingen. Inzwischen ist der »Fall Peggy und Ulvi« zu ihrem Lebensinhalt geworden. Gudrun und ihr Mann Harry nahmen Kontakt zu Elsa und Erdal Kulac auf, suchten Zeugen in Lichtenberg auf, sprachen mit ihnen über den Fall Peggy und gründeten eine Bürgerinitiative.
Im Januar 2005 beantragten Ulvis Eltern beim Amtsgericht Bayreuth die Bestellung eines Betreuers mit »weitreichenden Aufgabenkreisen« für ihren Sohn. Eine Aufgabe, für die sie Gudrun Rödel vorschlugen. Ein halbes Jahr später lehnte das Vormundschaftsgericht dieses Ansinnen ab; wegen der »umfassenden Hilfen im Maßregelvollzug« sei kein Betreuungsbedarf ersichtlich.
Die Kulacs legten Beschwerde ein. Ulvi sei keinesfalls in der Lage, »seine Angelegenheiten selbständig zu regeln«, und bedürfe der umfassenden Unterstützung durch einen Betreuer. Zwei Monate später, im September 2005, wurde das Beschwerdeverfahren von einem Einzelrichter entschieden. Er befand, der Betroffene bedürfe sehr wohl der Unterstützung in den Bereichen »Regelung von behördlichen, gerichtlichen sowie schadensersatzrechtlichen Angelegenheiten«. Der Betroffene sei »bei weitem überfordert, seine Rechte in diesen Bereichen selbständig wahrzunehmen«.
Am 9. November 2005 wurde Gudrun Rödel zur gerichtlich bestellten Betreuerin von Ulvi Kulac. Seitdem führt sie seinen Schriftverkehr. Vor allem aber hat sie inzwischen das Urteil und die Ermittlungsdokumente akribisch ausgewertet und auf Unstimmigkeiten überprüft. Dabei hat sie Erstaunliches herausgefunden. Sie konnte nämlich nachweisen, dass die Tathergangshypothese, die sich durch das Ermittlungsverfahren und die Anklage bis zum Urteil durchzog, objektiv falsch ist. Genauer: Die Tatzeit, die zuerst die Ermittler bestimmten und die das Gericht übernahm, stimmt nicht. Und dafür gibt es zwingende Beweise.
Ermittler und Richter haben den Tatzeitraum auf etwa eine halbe Stunde festgelegt. Am 7. Mai 2001 soll Ulvi Peggy um 13.15 Uhr angesprochen, sie dann verfolgt und zwischen 13.30 und 13.45 Uhr umgebracht und weggeschafft haben. Die Annahme eines anderen, späteren oder längeren Tatzeitraums hätte die Anklage gegen Ulvi Kulac ins Wanken gebracht. Denn für dieses »Später« hätte er ein Alibi gehabt. Konsequenterweise finden sich in den Akten zahlreiche Hinweise darauf, dass Peggy zum letzten Mal um 13.15 Uhr lebend gesehen wurde. Zu den Zeugen, die in diesem Zusammenhang aufgeführt werden, gehört auch die Schülerin Hilke Schümann. Sie hatte gesagt, sie habe Peggy am Mittag des 7. Mai 2001 aus dem Fenster des Schulbusses heraus gesehen. Während der Busfahrer angibt, gegen halb zwei in Lichtenberg angekommen zu sein, kommt die Polizei zu einem anderen Schluss. Laut Kripo-Vermerk muss Hilke Peggy um 13.14 Uhr gesehen haben, denn eine Minute später, um 13.15 Uhr, habe der Bus an der Haltestelle Poststraße in Lichtenberg gehalten. Das habe die Auswertung der Tachoscheibe ergeben. »Durch Auswertung des Fahrtenschreibers ist davon auszugehen, dass der Schulbus, aus welchem die Zeugin Hilke Schümann Peggy Knobloch das letzte Mal lebend am Henri-Marteau-Platz sah, die genannte Örtlichkeit um 13.14 Uhr passierte.«
Nur: Haben die Beamten den Fahrtenschreiber tatsächlich ausgewertet? In den Akten fand Gudrun Rödel eine Kopie, darüber eine Tabelle, die an einen Fahrplan erinnert, aber nur eine handschriftliche Notiz aufweist: »13.15 Uhr, Lichtenberg, Poststraße«.
Frau Rödel warf zunächst einen Blick in den offiziellen Busfahrplan und stellte fest, dass die planmäßige Abfahrt in Naila um 13.10 Uhr erfolgen sollte. Die Strecke nach Lichtenberg ist in fünf Minuten nicht zu bewältigen, schon gar nicht für einen Bus. Selbst mit dem Auto braucht man bei angemessener Geschwindigkeit für die acht Kilometer elf Minuten. Sollte der Bus also pünktlich abgefahren sein, hätte er um 13.14 Uhr definitiv noch nicht in Lichtenberg sein können.
Als Nächstes schaute sich Gudrun Rödel die Fahrtenschreiber-Karte genauer an. Die Kurve, die darauf verzeichnet ist, schien nahezulegen, dass der Bus tatsächlich um 13.10 Uhr losgefahren und um
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