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Der Fall Peggy: Die Geschichte eines Skandals (German Edition)

Der Fall Peggy: Die Geschichte eines Skandals (German Edition)

Titel: Der Fall Peggy: Die Geschichte eines Skandals (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ina Jung , Christoph Lemmer
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13.15 Uhr noch in voller Fahrt gewesen sein muss. Nun ist Frau Rödel keine Fahrtenschreiber-Expertin und wollte darum sichergehen, dass ihre Beobachtung zutrifft. Hersteller des betreffenden Fahrtenschreibers ist die Firma Kienzle, die wiederum eine Niederlassung in Bayreuth hat. Dorthin brachte sie ihre Fahrtenschreiber-Kopie und ließ sie von einem Experten auswerten. Resultat: Sie hatte sich nicht geirrt. Der Bus war tatsächlich um 13.10 Uhr losgefahren und kam erst um 13.25 Uhr in Lichtenberg an. Ganz so, wie der Busfahrer Werner Lohr das auch zu Protokoll gegeben hatte.
    Diese Erkenntnis ist für die Ermittler und das Gericht vor allem deshalb unangenehm, weil man Hilke Schümann ausdrücklich als glaubwürdig bezeichnet hatte – anders als viele der Zeugen, die Peggy noch am Nachmittag oder Abend gesehen haben wollten. In ihrer Aussage hatte das Mädchen zwar keine exakte Uhrzeit genannt, die konstruierten die Ermittler aus den Fahrtzeiten des Busses – die sie definitiv falsch bestimmt hatten.
    Entscheidend ist aber die zwingende Schlussfolgerung, die sich daraus ergibt: Das Zeitfenster für die Tat, das auch das Gericht für wahr erkannte, stimmt nicht.
    Ulvi hätte vom Zusammentreffen mit Peggy am Henri-Marteau-Platz über die Verfolgungsjagd bis zum Mord und dem Wegschaffen der Leiche maximal 15 Minuten Zeit gehabt.
    *
    Neben Gudrun Rödel knöpfte sich aber auch noch ein ausgewiesener Profi das Peggy-Urteil vor. Der Wiener Profiler Dr. Thomas Müller schritt vor einigen Jahren für einen Fernsehfilm den mutmaßlichen Tatort ab. Sein Ziel war es, herauszufinden, wie plausibel der gerichtlich festgestellte Tathergang war. Ausgangspunkt der Begehung war die Bank am Henri-Marteau-Platz, auf der Kulac gesessen haben soll. Dafür gab es, wie bereits erwähnt, eine einzige Zeugin, die ihre Beobachtung allerdings erst mit einem Jahr Verspätung der Polizei gemeldet hatte.
    Sollte Ulvi tatsächlich auf dieser Bank gesessen haben, musste Peggy auf dem Weg von der Schule nach Hause an ihm vorbei. Die Zeuginnen Ritter und Schümann hatten präzise Ortsangaben gemacht, wo sie Peggy gesehen haben wollten. Richtung Marktplatz nach Hause laufend. Damit wäre sie an Ulvis Bank längst vorbei gewesen. Es ist unwahrscheinlich, dass sie kurz vor der Haustür ihrer Wohnung noch einmal umgekehrt und den ganzen Weg zum Henri-Marteau-Platz zurückgelaufen sein soll. Eine Diskrepanz, die das Gericht im Urteil so glättete: Hilke Schümann habe Peggy »in diesem Bereich gesehen«.
    In seinem Geständnis behauptete Ulvi, er habe Peggy angesprochen, um sich für die Vergewaltigung vier Tage zuvor zu entschuldigen. Peggy habe aber nicht mit ihm reden wollen. Stattdessen sei sie geflohen, in Richtung des Kleingartenviertels Hermannsruh unterhalb des Ortszentrums.
    Schon das ist auffällig. Warum sollte Peggy ausgerechnet zur Hermannsruh laufen, anstatt den kurzen Weg von rund 50 Metern zu ihrem Wohnhaus zu wählen? In Sichtweite waren Dutzende Zuschauer, Ulvi hätte ihr mitten im Ort nichts tun können, und zu Hause wäre sie vermutlich in Sicherheit gewesen.
    Profiler Müller blieb dennoch bei dem, was das Gericht später als »wahr« erkannte. Peggy begab sich also ausgerechnet auf die viel längere und umständlichere Flucht über den Feldweg, der hinter den Gärten um die Altstadt herum zum Lichtenberger Schlossberg führt. Ulvi sagte in seinem Geständnis, er habe sich erhoben und sei ihr hinterhergelaufen.
    Das ist die nächste Merkwürdigkeit. Ulvi war und ist ein starker Raucher und mit gut hundert Kilogramm enorm übergewichtig. Als Sportskanone war er nicht bekannt. Es gibt Zeugen, die bestätigen, dass sein Atem selbst dann rasselte, wenn er beim Sprechen zwischen zwei Sätzen Luft holte. Untersucht wurde seine Fitness nie, obwohl es sich bei der angeblich folgenden Jagd auf Peggy nicht etwa um einen kurzen Sprint, sondern um eine längere Etappe über einen schmalen, unbefestigten Weg handelte, auf dem zudem beachtliche Steigungen zu bewältigen waren. Die Entfernung, die Peggy vor ihm hergerannt sein soll, beträgt einen knappen Kilometer. Auch wenn es schwer zu glauben ist, hielt das Gericht diese Leistung ohne weiteres für möglich – während sie Ulvi im Missbrauchsfall Sebastian bescheinigte, er hätte dem Jungen nie und nimmer hinterherrennen können. Wäre das Gericht dieser Einschätzung auch im Fall Peggy gefolgt oder hätte man Ulvi diesen »Verfolgungslauf« tatsächlich absolvieren lassen, wäre das Urteil

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