Der Fall Peggy: Die Geschichte eines Skandals (German Edition)
Gerichtsverfahrens bis heute in mancher Hinsicht eine Sache von Glück oder Pech. Überraschend mild fiel etwa ein Urteil des Landgerichts München II im August 2012 aus. Dort war ein Mann aus dem Landkreis Ebersberg bei München angeklagt, dem seine inzwischen volljährige Tochter vorwarf, er habe sie über Jahre mindestens 200 Mal sexuell missbraucht. Weil die Frau die Taten aber immer wieder widersprüchlich geschildert hatte, hielt der verantwortliche Richter Oliver Ottmann den Vorwurf für nicht beweisbar und sprach den Angeklagten nach der Regel »in dubio pro reo« frei. Ein Urteil, das auch anders hätte ausfallen können. In seiner Begründung äußerte sich Ottmann selbst unzufrieden. Er sei tatsächlich davon überzeugt, dass an den Vorwürfen der Frau etwas dran sei, nur sei es eben nicht in letzter Klarheit nachzuweisen gewesen. Wie umstritten Ottmanns Entscheidung war, zeigte die Reaktion der Staatsanwaltschaft, die sofort die Revision ankündigte.
Dass eine Staatsanwaltschaft ein Urteil einer Schwurgerichtskammer angreift, ist vor allem in Bayern selten. Üblich ist eher das Gegenteil, dass nämlich Richter und Staatsanwälte aufgrund der verwandten Karrierewege ihre Fälle ähnlich einschätzen und die Kammern eher härter urteilen als in anderen Bundesländern.
Das hat eine kausale Ursache, die jedermann, der mit der bayerischen Justiz vertraut ist, kennt. Praktisch alle höheren Richter in Bayern haben irgendwann Karrierestufen bei der Staatsanwaltschaft durchlaufen oder dort angefangen. Die Perspektive der Justiz-Ermittler ist ihnen aufgrund dieser »bayerischen Spezialität« vertraut. Während es in anderen Bundesländern nur hin und wieder vorkommt, dass ein Staatsanwalt zum Richter ernannt wird, ist das in Bayern die Regel. Praktisch kein höherer Richter gelangt in sein Amt, wenn er nicht vorher ein paar Jahre als Staatsanwalt gedient hat. Strafverteidiger sehen darin die Gefahr eines gewissen Korpsgeistes, der immer wieder zu fehlerhaften Urteilen führe.
In Bayern wäre demnach besonders stark ausgeprägt, was der Bundesrichter Ralf Eschelbach vom Grundsatz her der Justiz in ganz Deutschland bescheinigt. Eschelbach ist Beisitzer der 2. Strafkammer des BGH und hat in seinem Strafrechtskommentar im Mai 2011 eine brisante Behauptung aufgestellt: 25 Prozent aller Urteile in Strafprozessen seien falsch. Besonders arg sei es bei Fällen, in denen es keine oder nur wenige Beweise gebe und bei denen »Aussage gegen Aussage« stehe. Als eine Hauptursache für Fehlurteile sieht Eschelbach eine Vorverurteilung der Richter, die allzu häufig im Schulterschluss mit der Staatsanwaltschaft agieren würden.
Unter Rechtsanwälten ist Eschelbachs Einschätzung beliebt und wird gern durch den Hinweis ergänzt, dass der Richter bei der Prozesseröffnung und nach Lektüre der Anklageschrift in der Regel schon wisse, wie er später entscheiden werde. Das Verfahren sei im Wesentlichen nur noch dazu da, einen rechtsstaatlichen Prozessverlauf protokollieren zu können und das Urteil so zu begründen, dass es auch einer Revision vor dem Bundesgerichtshof standhalte.
Gleichwohl ist Eschelbachs Ansicht umstritten, auch innerhalb des Bundesgerichtshofs. Dessen Präsident Klaus Tolksdorf bestreitet sie entschieden und nennt sie nicht »tragfähig«. Wenn es in größerem Ausmaß Fehlurteile gebe, dann solche, die nach dem Grundsatz »in dubio pro reo« gefällt wurden – wie das beschriebene Verfahren gegen den Mann aus dem bayerischen Landkreis Ebersberg, den der Richter aus Mangel an Beweisen nur widerwillig freisprach. Tolksdorf wirft Eschelbach vor, Zahlen aus amerikanischen Strafverfahren in seine Schätzung einzubeziehen, was in die Irre führe. US-Verfahren hätten »deutlich weniger Filter zum Schutz des Beschuldigten«, sagte er der Stuttgarter Zeitung . Zwar verweist Eschelbach tatsächlich auf die USA, allerdings mit gegenteiliger Stoßrichtung und Faktenlage: In den USA gebe es bei Strafverfahren eine Freispruch-Quote von etwa einem Drittel, in Deutschland liege sie dagegen bei unter drei Prozent. Den Grund dafür sieht Eschelbach darin, dass in den USA eine Jury über Schuld und Unschuld befindet, die die Akten vorher nicht kannte und für die insofern die Positionen der Staatsanwaltschaft ebenso fremd sind wie die der Verteidigung. Und das ist tatsächlich ein deutlicher Unterschied zum Verfahren in Deutschland, wo Richter urteilen, die vor Prozessbeginn mit den Ermittlungsergebnissen der
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