Der Fall Peggy: Die Geschichte eines Skandals (German Edition)
Staatsanwaltschaft vertraut sind.
Als weiteren Beleg für seine These, dass es nur sehr wenige Fehlurteile gebe, führt Tolksdorf die geringe Zahl an Wiederaufnahmeverfahren in Deutschland an. Er räumt zwar ein: »Freilich mag noch ein gewisses Dunkelfeld hinzukommen. Trotzdem bleiben Fehlverurteilungen die absolute Ausnahme.« Eine Statistik gebe es darüber nicht, und die sei im Prinzip auch nicht nötig, denn wenn eine Wiederaufnahme erfolgreich sei, »dann wird das doch fast ausnahmslos durch die Medien und Fachzeitschriften bekannt«.
Damit hat Tolksdorf zweifellos recht – und sitzt zugleich einem Trugschluss auf. Denn Medien berichten niemals über normale Alltagsdinge, sondern immer über Besonderheiten. Und Wiederaufnahmeverfahren sind eben gerade keine Alltäglichkeit, sondern derart selten und besonders, dass die meisten von ihnen tatsächlich berichtenswert sind. Deutschlandweit gab es im Jahr 2001 nur 160 Fälle, bei denen ein Landgerichtsurteil zugunsten des Verurteilten nach Rechtskraft aufgehoben wurde. Freilich enthält die Statistik, so klein ihre Zahlen sein mögen, einen Hinweis darauf, dass die von Eschelbach kritisierte Lage in Bayern tatsächlich noch drängender ist als in den anderen Bundesländern. Mit 32 Wiederaufnahmen liegt der Freistaat auf Platz eins, noch vor dem gemessen an der Bevölkerungszahl größeren Nordrhein-Westfalen mit 26 Fällen.
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Die enge Gemeinschaft von Richtern und Staatsanwälten zeigt sich auch im Fall Peggy. Die Richter im Peggy-Prozess haben alle als Staatsanwälte gearbeitet, bevor sie zu Richtern ernannt wurden. Beim Prozess gegen Ulvi Kulac kommt ein weiteres ungewöhnliches Detail bei der Besetzung der Kammer hinzu, das überraschenderweise bisher niemandem aufgefallen ist. Es betrifft die Schöffin Ina Hager-Dietel, die der Kammer als Laienrichterin angehörte. Frau Hager-Dietel war ein Jahr vor ihrer Berufung als Schöffin für die CSU in den Hofer Stadtrat gewählt worden. Es ist noch nicht der Umstand, dass eine Lokalpolitikerin nebenbei auch Schöffin ist, der hier für einen unangenehmen Beigeschmack sorgt. Sondern die Tatsache, dass einer ihrer Fraktionskollegen im Stadtrat einer der ranghöchsten Ermittler im Fall Peggy war: Eberhard Siller. Siller war in Personalunion Bürgermeister von Hof, Vizepräsident des Bezirkstages Oberfranken, seit 1978 – und damit länger als jeder andere – Mitglied im Hofer Stadtrat und Vizechef der Staatsanwaltschaft Hof. Siller war damit einer der Vorgesetzten von Staatsanwalt Heindl, der als Gruppenleiter für die Ermittlungen gegen Ulvi Kulac zuständig war. Außerdem hat Siller als Mitglied der Oberstaatsanwaltschaft auch persönlich an dem Fall gearbeitet.
Nach kritischen Nachfragen im Landtag hat das bayerische Justizministerium nachvollzogen, wie Ina Hager-Dietel in das Peggy-Verfahren berufen wurde. Demnach entschied im Oktober 2002 das Landgericht Hof per Losverfahren, in welcher Reihenfolge die zur Verfügung stehenden Schöffen in den Jahren 2003 und 2004 zu den anstehenden Prozessen geladen werden sollten. Als der Prozess gegen Ulvi Kulac vorbereitet wurde, stand Frau Hager-Dietel zunächst nur auf einem Platz für die Hilfsschöffen. Weil die Hauptschöffin aber aus beruflichen Gründen absagte, rückte sie nach.
Mit Eberhard Siller habe sie nie über den Fall Peggy gesprochen, sagte Frau Hager-Dietel uns auf Nachfrage. Das mag schwer zu glauben sein angesichts der Tatsache, dass der Fall Peggy in der Region damals ein großes Gesprächsthema war – aber es ist auch nicht zu widerlegen. Siller habe zwar gewusst, dass sie als Schöffin tätig sei, aber ob er wusste, dass sie zum Richterteam im Fall Peggy gehörte, daran erinnere sie sich nicht. Umgekehrt habe sie bis zu unseren Recherchen keine Ahnung gehabt, dass Siller bei der Staatsanwaltschaft an den Ermittlungen gegen Ulvi Kulac beteiligt gewesen war. Siller selbst wollte sich zum Fall Peggy nicht äußern.
Dass das Urteil gegen Ulvi Kulac richtig war, davon ist die damalige Schöffin bis heute überzeugt. Sie wiederholt den Satz mehrmals: »Ich bin überzeugt, dass er zu Recht verurteilt wurde.« Das Gericht habe bei der Untersuchung des Falles gewaltigen Aufwand getrieben. »Wir haben akribisch die Unterlagen studiert und Aussagen wörtlich mitgeschrieben«, so Hager-Dietel. »Auch am Wochenende waren wir im Gericht und haben den Fall heftig diskutiert.« Am Ende seien sich alle fünf Richter – die drei Berufsrichter und die beiden
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