Der Fall Peggy: Die Geschichte eines Skandals (German Edition)
Laien – über den Schuldspruch einig gewesen. Es gab keine Gegenstimme. Hätte es die gegeben, dann hätten die Richter sich weiter zusammengesetzt und beraten, z.B. über ein niedrigeres Strafmaß. Eine solche Gegenstimme habe es aber allein aus folgendem Grund nicht gegeben, wie sie uns gegenüber erläuterte: »Ulvi hat ja mehrere Kinder sexuell misshandelt. Er war ein schwerer Missbrauchstäter, das stand ja fest.«
Wir haben Frau Hager-Dietel gefragt, wie sie den Fall beurteilen würde, wenn sie damals schon die Kritik an den Ermittlungen gekannt hätte, die erst jetzt durch die Recherchen ans Tageslicht kamen, etwa den Umgang mit den damaligen Kinderzeugen Jakob Demel und Sebastian Röder. Wir schilderten ihr, was die inzwischen jungen Männer uns erzählt hatten – dass die Polizei sie unter Druck setzte zu verschweigen, dass sie Peggy nach ihrer gerichtlich festgelegten Todeszeit noch getroffen haben. Frau Hager-Dietel reagierte darauf zunächst perplex und sagte dann: »Das kann ich mir in unserem Rechtsstaat nicht vorstellen.« Sie fügte hinzu: »Ich glaube gern an den Rechtsstaat.«
Ähnliches hörten wir auch von einem anderen Richter aus dem Peggy-Verfahren – freilich mit einem kritischen Nachsatz: »Es könnte sein, dass uns die Polizei damals nicht alles gesagt hat«, vermutet er heute. Das freilich wäre für ein Gerichtsverfahren fatal. »Wem sonst soll man denn glauben, vor allem, wenn es keine Leiche und keinen Sachbeweis gibt?« Dass Angeklagte lügen, um sich zu schützen – damit rechne man in einem Strafprozess. Dass Zeugen sich manchmal nicht mehr präzise an ihre Beobachtungen erinnern, sei ebenfalls nicht ungewöhnlich. Aber die Polizei habe einen staatlichen Auftrag und sei zu Genauigkeit und Wahrheit verpflichtet. Auch dieser Richter sagte einen Satz, der als Bekenntnis zum Rechtsstaat gemeint war – aber er klang ein kleines bisschen anders als bei Frau Hager-Dietel: »Ich möchte an den Rechtsstaat glauben, weil ich nicht weiß, wie die Justiz sonst funktionieren sollte.«
Kapitel 28
Der Widerruf des V-Manns
D er Glaube an den Rechtsstaat indes wurde im Fall Peggy massiv erschüttert.
Sechs Jahre nach dem Urteil gegen Ulvi Kulac suchte der inzwischen wieder in Freiheit lebende Fritz Hermann am 13. September 2010 einen Ermittlungsrichter in Bayreuth auf und gab schriftlich und mündlich eine eidesstattliche Versicherung ab. Hermann war Ulvis Mitinsasse in der Bayreuther Psychiatrie gewesen und hatte behauptet, Kulac habe ihm den Mord an Peggy gebeichtet. Jetzt sagte Hermann etwas anderes – nämlich dass seine damalige Aussage frei erfunden gewesen sei und Ulvi ihm den Mord niemals gebeichtet habe. Damit stellte Hermann die Ermittlungsbehörden und das Gericht bloß, die aufgrund seiner Aussage den vermeintlichen Tathergang konstruiert hatten. Wörtlich heißt es in Hermanns eidesstattlicher Versicherung: »Ich habe im Strafverfahren gegen Herrn Ulvi Kulac wahrheitswidrig ausgesagt, dass mir Herr Kulac gestanden hätte, Peggy Knobloch getötet zu haben. Tatsache ist, dass Herr Kulac mir gegenüber nie ein derartiges Geständnis abgelegt hat. Er hat sich mir gegenüber dahingehend geäußert, dass er Peggy Knobloch beim gemeinsamen Spiel an einer Playstation durch Fummeln sexuell belästigt habe. Er erklärte in diesem Zusammenhang aber mehrfach, dass er sie nicht getötet hat.«
Sein Plan, die Lüge seines Lebens zu offenbaren, sei über Jahre gereift, bekannte der einstige Kronzeuge. 1999 hatten Ärzte bei ihm einen Tumor am Frontalhirn festgestellt. Schon 2003 habe er seinem Anwalt gesagt, er habe nicht mehr lange zu leben und wolle vor seinem Tod »reinen Tisch« machen. Der Anwalt habe ihm dringend geraten, dennoch den Mund zu halten, »weil man mir sonst möglicherweise eine draufhaut wegen Falschaussage«, wie Hermann später einem Richter erzählte. Dass Ulvi unschuldig verurteilt worden war, hatte den Anwalt demnach offensichtlich nicht gestört.
Wenige Wochen vor dieser eidesstattlichen Versicherung hatten Ulvis Angehörige und Betreuer den Frankfurter Strafverteidiger Michael Euler beauftragt, ein Wiederaufnahmeverfahren vorzubereiten. Im Sommer 2010 hatte Euler seinen Mandanten in der Bayreuther Klinik besucht. Bei dieser Gelegenheit wollte er auch mit Hermann sprechen, der kurz vor der Entlassung stand. Zu einem Gespräch war er nicht bereit, Euler hinterließ ihm seine Visitenkarte mit der Bitte, ihn anzurufen.
Der entscheidende Auslöser für Hermanns
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