Der Fall Sneijder
meine vier Abteilungskollegen mit einem Abschiedsgeschenk ins Büro – vermutlich einer Weinkiste.
Ohne dieser freundlichen Geste in irgendeiner Weise Beachtung zu schenken, richtete mein Geist seine ganze Aufmerksamkeit auf die Enge, die plötzlich in diesem Raum herrschte. Die Wände, halb aus Glas und halb gemauert, waren mir noch nie so nah erschienen. Wir standen zu sechst darin, plus Schreibtisch, zwei Stühle und Schränke. Zu sechst. Auf knapp neun Quadratmetern.
»Wir wollten dir zum Abschied diese paar Flaschen Wein aus deiner Heimat schenken und dir alles Gute wünschen.«
Mein Körper fing an zu schwitzen, mir war, als würde mir jemand mit der Hand den Mund zuhalten, damit ich keine Luft bekam. Ich erstickte, ich hatte Angst vor einer lauernden Gefahr, die von jedem Einzelnen hier ausgehen konnte. Wir waren zu viele, viel zu viele, das konnte keiner wissen, keiner begreifen, und helfen konnte mir erst recht keiner. Ich spürte, wie ich die Kontrolle verlor, ich kippte in eine andere Realität,in der es an Luft mangelte. Ich stöhnte auf, gab ein leises Wimmern von mir und wischte mir keuchend den Schweiß von der glühenden Stirn. Drei Personen standen zwischen mir und der Tür, jemand fragte, ob mit mir alles in Ordnung sei, ein anderer wollte mich stützen, doch: noli me tangere , man durfte mich nicht anrühren, nicht in diesem Moment, da offenbar irgendetwas versuchte, mich zu ersticken. Also tat ich, was man tut, wenn man kurz davor ist, von einer Gefahr eingeholt zu werden: Ich nahm die Beine in die Hand und rannte los, stieß dabei alles um und entkam auf diese Weise einem Büro, das mich von einer Minute auf die andere wie eine Glasmuschel gefangen zu nehmen drohte.
Auf wackeligen Beinen lief ich die Treppe hinunter, hielt mich am Geländer fest, stützte mich, wenn nötig, an den Wänden ab, durchquerte die Eingangshalle und verlangsamte erst draußen das Tempo, etwa hundert Meter vor dem Gebäude, dem von da an nichts Bedrohliches mehr anhaftete.
Ich beobachtete, wie das Leben allmählich an seinen Platz zurückkehrte und die Dinge um mich herum wieder ihrem Lauf folgten. Ich hatte keine Ahnung, was mir gerade widerfahren war. Den Mann, der eben wie von der Tarantel gestochen losgerannt war, kannte ich nicht einmal. Ich betrachtete seine vor Entsetzen zitternden Hände und fragte mich nur, ob wir es in der uns verbleibenden Zeit miteinander aushalten würden.
Ich hoffte, dieser erbärmliche Zwischenfall würde die Weinkeller und Archive der SAQ nie verlassen. Aber schon zwei Tage später, obwohl dies ein Hühnchenabend war, erinnerte mich Anna daran, wer ich war und woher ich kam – ihr Informant, vermutlich der Kerl, der mich eingestellt undmir versichert hatte, wie sehr er mein Fortgehen bedauerte, hatte sie über alles in Kenntnis gesetzt.
»Man hat mir gesagt, du hättest dich in der SAQ auffällig verhalten.«
»Ein plötzliches Unwohlsein.«
»Was für ein Unwohlsein?«
»Eine Art Angst- oder Panikattacke.«
»Du hast neuerdings Angstattacken?«
»Nicht Attacken, sondern eine Attacke.«
»Hast du einen Arzt aufgesucht?«
»Noch nicht.«
»Und worauf wartest du? Dass es sich wiederholt? Dass es schlimmer wird? Bist du dir überhaupt bewusst, in welch peinliche und lächerliche Lage du mich gebracht hast? Schließlich verdankst du es meinen Beziehungen, dass du einen Posten in der SAQ bekommen hast. Und nun lässt du sie nicht nur hängen, sondern gehst an dem Tag, an dem sie dir ein Abschiedsgeschenk machen wollen, wie eine Furie auf sie los und machst dich aus dem Staub.«
»Wie ich sehe, hat man dir ausführlich Bericht erstattet.«
»Das Schlimmste ist, dass du mir nichts gesagt hast. Ich kam mir vor wie ein Vollidiot, als mir mein Freund von der SAQ, der natürlich dachte, ich wüsste Bescheid, alles erzählt hat. Ich möchte, dass du umgehend einen Arzt aufsuchst.«
»Ist das Huhn, das du mitgebracht hast, ein Freilandhuhn?«
»Hör auf, mir immer dieselbe Frage zu stellen. Du solltest mittlerweile wissen, dass ich nur Freilandhühner kaufe.«
Ich weiß. Jeden Dienstag und jeden Freitag. Nachdem du von den Wonnen Ontarios gekostet hast. Ich würde dir gern sagen, dass ich Fleisch nicht sonderlich mag. Weder Geflügelnoch Rind. Es steckt zu viel Schmerz darin. Bei jedem Happen, jedes Mal wenn ich kaue, spüre ich ihn. Aber das kannst du nicht begreifen, und noch weniger erkennst du seinen charakteristischen Geschmack. Dabei ist es manchmal geradezu abstoßend. Der
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