Der Fall Sneijder
Bissen liegt einem auf der Zunge wie ein Stück Holz. Und manchmal kann man nicht einmal mehr schlucken. Ganz gleich ob Freiland oder nicht.
Jedenfalls habe ich nicht im Entferntesten die Absicht, zum Arzt zu gehen. Ich habe über mein Problem nachgedacht und beschlossen, es zu akzeptieren, damit zu leben. So wie man sich nach einem Unfall damit abfindet, dass man hinkt. Vielleicht gibt es seit diesem Ereignis tatsächlich Momente, in denen mein Gehirn ein wenig hinkt. Nun, dann werde ich künftig riskante Situationen meiden, mich sooft es geht, von Hochhäusern fernhalten und vor allem von den Leuten, die darin leben.
Ja, ich glaube sogar, dass ich weniger Probleme mit den Hochhäusern habe als mit den Leuten darin.
Anna isst. Sie hat großen Appetit. Bei Bell liefert sie angeblich hervorragende Arbeit ab. Derzeit erstellt sie ein wertvolles Patent für Sprachbefehle. Kein Wunder, dass sie in dieser Branche tätig ist, wo sie es doch so liebt, wenn man auf ihr Wort hört und nach ihrer Pfeife tanzt.
Seit dem Unfall, seitdem ich aus dem Koma erwacht bin, habe ich den Eindruck, eine verfeinerte Wahrnehmung der Wirklichkeit zu haben. Als hätte jemand während meines Schlafs den Lärmpegel der Welt hochgedreht. Mir ist, als läge in der Luft etwas Hektisches, Hysterisches. Jeder lauert auf einen Knochen, an dem er knabbern kann. Man spürt eine latente Wildheit, eine Barbarei des Lebens.
Ich sollte derartige Dinge nicht sagen. Im Moment schadet mir das eher. Ich sehe mich an und erkenne mich manchmal selbst nicht wieder. Würden meine Eltern mich noch erkennen? Wie haben sie mich überhaupt gesehen? So wie all die anderen Leute, denen ich auf der Straße begegne, oder anders? Meine Eltern sind tot, meine Tochter auch. Ohne sie habe ich nicht die geringste Vorstellung, wie die Leute mich sehen. Posttraumatisches Syndrom, sagen die einen. Residuelle Melancholie, infolge eines längeren Komas, halten andere dagegen. Anna weiß, wovon sie spricht: »Ich möchte, dass du umgehend einen Arzt aufsuchst.«
So wie jeden Abend werde ich gleich in mein Arbeitszimmer hochgehen. Lesen und lernen. Ich habe gesehen, dass meine letzte Bestellung der Elevator World in der Post war. Zusammen mit dem Katalog The Elevator World Source Directory , der alle Hersteller, Fachleute, Zulieferer und Techniker der Welt verzeichnet. Ich weiß nicht, was ich damit anfangen werde, und auch nicht, warum ich mich in diese Welt der Tag und Nacht auf- und abwärts fahrenden Blechbüchsen einschließe.
Ich denke an das Gedächtnis, an seine übergroße Macht und an den schweren Ballast, den es mit beklemmender Regelmäßigkeit in uns ablädt. Wenn ich manchmal oben am Schreibtisch sitze oder in meinem Bett auf den Schlaf warte, spüre ich, wie es heranschleicht, eine Schlange mit eiskalter Haut, die mir ihre Archivbilder aufdrängt – ich denke an alles, was ich nicht hätte sehen dürfen, alles, was ich nicht hätte hören dürfen, den Boden des Fahrstuhlschachts, das Blut meines Kindes, die toten Lippen meiner Mutter, die meinen Kuss nicht mehr erwiderten, meinen Vater, der im Auto weinte,Gladys, die von zu Hause aufbrach. Und ich, der unheilvolle Protokollführer, der alles fein säuberlich mitschreibt, notiere die Einzelheiten, sortiere die Leiden, die Verluste, verzeichne die Toten und setze, gefühllos und lebendig, meine Gedächtnisarbeit fort, jede Nacht, sobald die Dunkelheit hereinbricht und der Schlaf auf sich warten lässt.
Man sollte sich nicht mehr daran erinnern können, woher man kommt und wohin man geht. Ich würde gern zu einer gedächtnislosen Spezies gehören, die, befreit von der Geschichte, einzig den zirkadianen Rhythmen folgend, einfach in den Tag hineinlebt. Die nichts erbt. Weder passiv, noch genetisch. Die über keine Verbindungen, keine Karyotypen verfügt. Ein Sonnenaufgang, ein Tag, und das war’s. Jeden Morgen der Geruch des Neuen. Und eine ganzeWelt erschnuppern. Ich weiß nicht, wie ein solches Leben aussehen mag, aber es kann nicht schlimmer sein als jenes, das wir unter dem allgegenwärtigen Protektorat des Gedächtnisses führen.
Heute Abend ist es mir beim Durchlesen meiner Unterlagen gelungen, mich seinem Einflussbereich einen Moment lang zu entziehen. Und zwar bin ich auf eine seltsame Begebenheit aus dem Jahr 1999 gestoßen, in die ein gewisser Nicholas White verwickelt war, damals vierunddreißig Jahre alt und Journalist bei der Business Week .
In jener Nacht arbeitete dieser Mann um elf Uhr abends mit
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