Der Fall Sneijder
stieg ich hinauf ins Arbeitszimmer, wo mein Informationsmaterial auf mich wartete. Ich schlug eine Nummer der Elevator World auf, die ich am Vortag zu lesen begonnen hatte. Sie war der Frage nach dem Platzbedarf in Personenaufzügen gewidmet. Die Analyse basierte auf der Untersuchung, die ein gewisser John Fruin 1971 in einem Buch mit dem Titel Pedestrian Planning and Design veröffentlicht hatte. Fruin hatte den Begriff des persönlichen Raums eingeführt und ihn als Ellipse dargestellt, die den menschlichen Körper umgab, sechzig Zentimeter lang und fünfundvierzig Zentimeter breit. Diese geometrische Figur entsprach dem Raum, den ein Mensch auf dieser Erde einnimmt. Der Forscher hatte außerdem die minimal benötigte Fläche füreinen Passagier in öffentlichen Verkehrsmitteln ausgerechnet, 0,27 Quadratmeter in der U-Bahn und 0,18 Quadratmeter in einem Aufzug. Ein anderer Forscher, der auf Untersuchungen der räumlichen Abstände zwischen Personen spezialisiert war, hatte festgestellt, dass für einen Menschen ein Bereich von 0,9 Quadratmetern einer noch annehmbaren Intimzone entspricht, vorausgesetzt, die Körper halten mindestens vierzig Zentimeter Abstand. Darunter empfindet jeder Mensch die Wärme und den Körpergeruch seiner Mitmenschen als Belästigung. Andere, heimtückischere Experimente hatten bewiesen, dass in einem überfüllten Aufzug, in dem sich ausschließlich Frauen befinden, diese sich mit einer minimalen Fläche von circa 0,13 Quadratmetern begnügen. Wenn man hingegen einen Mann in denselben Aufzug steckt, beanspruchen die Frauen eine Fläche von bereits 0,18 Quadratmetern.
Ich las dies alles durch, ohne eigentlich zu wissen, warum. Aber ich hatte den Eindruck, dass hier nicht nur von den Ärgernissen erzählt wurde, die diese seltsamen Maschinen verursachten, sondern es ging um nichts Geringeres als die Geschichte unserer Welt und unserer Spezies. Warum hatten wir angefangen, die Erde in winzige Orangenschnitze zu zerteilen? Wie hatte man uns dazu gebracht, bereitwillig auf einer so winzigen Fläche auszuharren? Wer hatte uns beigebracht, schweigend auf einem Fünftel Quadratmeter zusammenzutreten und die uns zur Verfügung stehenden 0,9 Quadratmeter Boden als ausreichend zu betrachten?
Draußen herrschte nächtliche Stille, die Einbruchsmelder hielten Wache, und ich dachte an den Mathematiker Pierre de Fermat, von dem es hieß, er habe seine Entdeckungen geschickt vor anderen verborgen gehalten; ich dachte an dievom Himmel gefallenen Vögel und an die ertrunkenen Fische, ich dachte an die Asche meiner Tochter, die nebenan ruhte und jeden Tag durch mein Leben geisterte; ich konnte nicht schlafen und war mehr denn je überzeugt, dass die Ränder unseres Lebens zu schmal sind, um die Summe unserer Träume und den Spiegel unserer Intuitionen zu fassen.
Gegen sechs Uhr morgens stellte das unerträgliche Kreischen unserer ultramodernen Alarmanlage spontan ihr ganzes Störvermögen unter Beweis. Noch ganz benommen von den über mich hinwegpeitschenden Dezibel und vollkommen verdattert über diesen ohrenbetäubenden Lärm, brauchte ich einige Zeit, bis ich begriff, dass wir gerade unseren ersten Tribut an jene hochempfindliche und äußerst hilfreiche Technologie zahlten, die so prompt ihren Dienst tat. In den Augen dieser Geräte war jede vor dem Hauseingang oder auf der Terrasse registrierte Bewegung es würdig, uns mitgeteilt zu werden, zumal die übereifrigen Sensoren keinerlei Unterschied zwischen den zarten Pfoten eines vorbeihüpfenden Eichhörnchens und einem Paar Doc Martens machten. Nachdem ich mich von meinem ersten Schock erholt hatte, raste ich zum Sicherungskasten, um das gesamte System vom Stromkreis zu trennen. Diese Angst einflößende Situation, die plötzlich das Schlimmste vorstellbar machte, ließ meine Handgriffe so ungeschickt werden, dass die ganze Prozedur wesentlich länger brauchte als vorgesehen. Als endlich wieder Stille eingekehrt war, fühlte ich mich in Sicherheit, geschützt vor diesen Maschinen, die uns eigentlich beruhigen und beschützen sollten. Zudem bestand kein Zweifel, dass wir soeben einen Großteil der Leute unseres Viertels am Fortschritt der Hightech-Einbruchsmeldetechnik hatten teilhaben lassen.Meine Frau stand zürnend, wie eine antike Göttin, in ihren Morgenmantel gehüllt, auf dem oberen Treppenabsatz und verkündete: »Die Techniker müssen umgehend vorbeikommen und diese Apparate regeln. Das ist ja völlig inakzeptabel.« Wenn es um offizielle
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