Der Fall Sneijder
Gesicht drückte mehr Panik als Mitleid aus. An diesem Morgen wurde mir klar, dass ich eine bestehende Ordnung durcheinandergebracht, ein Tabu gebrochen, die Grenzen zu einer verbotenen Welt überschritten hatte. Ich hatte die Regeln des gesellschaftlichen Anstands gebrochen. Und das machte aus mir automatisch den potenziellen Insassen einer Nervenanstalt. Der Vater von zwei Steueranwälten, der Mann einer Spezialistin für automatische Spracherkennung wollte von einem Tag auf den anderen Handler und Dogwalker werden – keine weiteren Fragen, der war reif für den Neurologen, wenn nicht gar für den Psychiater. Ich fragte mich, was Anna diesem Kerl erzählt haben mochte, wenn er mich als Notfall in seiner Sprechstunde unterbrachte. Wobei man sagen muss, dass mich der Unfall zwar nicht wie White in die Fernsehstudios katapultiert, aber zumindest im Royal Victoria Hospital zu einer Lokalberühmtheit gemacht hatte. Ich war der Kerl, der vom Himmel gefallen war und im Gegensatz zu den Rotschulterstärlingen überlebt hatte.
Ein Ass des freien Falls.
Dr. Walcott hatte eine äußerst unangenehme Manie. Während er sich mit seinen Patienten unterhielt, scrollte er ständig auf seinem iPhone herum. Wie ein dicklicher, doch unermüdlicher Eiskunstläufer glitt sein Daumen über den Touchscreen des Geräts. Man hatte den Eindruck, er würde sich in Gesellschaft seiner Patienten derart langweilen, dass er ununterbrochen die Hilfe einer App in Anspruch nahm, um sich von seinem Arbeitspensum abzulenken. Angeblich sollte Walcott während meines Komas eifrig meinen Fall bearbeitet haben, bis ich die Augen aufschlug und er sich diskret zurückgezogenhatte. Meine Meinung über ihn war gespalten. Er war ein großer Fachmann und schlechter Beichtvater. Solange die Krankheit genügend Distanz wahrte, auf Bilder gebannt war oder kategorisiert werden musste, war Walcott in seinem Element und hocheffizient. Sobald das Übel jedoch konkrete Gestalt annahm, er zuhören musste oder mit allzu Menschlichem konfrontiert wurde, sahen die Dinge schlecht aus.
»Ihre Frau hat gesagt, Sie seien in Schwierigkeiten, Monsieur Sneijder.«
»Ich glaube, sie hat mächtig übertrieben. Es geht mir eher gut.«
»Sie hat von sonderbaren Vorstellungen, merkwürdigen Verhaltensweisen gesprochen.«
»Unsinn, da war nichts Schlimmes. Ich hatte vor ein paar Tagen eine Angstattacke; manchmal fällt es mir eben schwer, mich in einem Raum aufzuhalten, in dem es viele Leute gibt.«
»Verstehe. Fixe Ideen, andere Phobien? Kopfschmerzen?«
»Alles in Ordnung.«
»Und die Sache mit den Hunden …«
»Sie hat Ihnen also davon erzählt? Ich habe einen Job als Hundeausführer gefunden, ein paar Stunden pro Tag, das ist alles. Momentan tut es mir gut, draußen zu sein und mir die Beine zu vertreten. Es hält mich vom Grübeln ab. Ich vertreibe mir die Zeit. Meine Frau hat Ihnen bestimmt auch erzählt, dass ich viel über Aufzüge lese.«
»Nein. Was lesen Sie denn?«
»Alles. Reportagen und soziologische Studien über die Geschichte oder die Technik der Aufzüge, sogar Kataloge über Zubehör.«
»Das ist eine legitime Neugierde.«
Der Daumen des Arztes glitt über den Spiegel seines Telefons. Sein Finger schien einen süßen Traum zu streicheln, bevor er wieder zur Ruhe kam.
»Wissen Sie, Monsieur Sneijder, mir ist nur wichtig, dass Sie keine Kopfschmerzen oder Schwindelgefühle haben. Alles andere sind Lappalien, die mehr oder weniger normal sind nach einem Trauma, wie Sie es erlebt haben. Sollten Sie jedoch weitere Angstattacken haben, sagen Sie mir Bescheid, dann verschreibe ich Ihnen etwas. In der Zwischenzeit sollten Sie Sport treiben und schöne Spaziergänge mit Ihren Hunden unternehmen.«
In diesem Augenblick schien mir der Arzt die Gnade in Person zu sein. Ich verehrte seinen Daumen. Ich nahm alle Kritik zurück. Ich rechnete ihm seine Diskretion und seine Art, jede Sprechstunde auf wenige Minuten zu beschränken, hoch an. Da er offenbar nichts von dem Bannfluch meiner Frau wusste, hatte er mich und meine Hunde gesegnet.
Am frühen Nachmittag stattete ich Charles Wagner-Leblond unangemeldet einen Besuch ab. Zu meiner Überraschung hatte er tatsächlich etwas Zeit und lud mich ein, in dem gemütlichen Empfangszimmer, das er in seiner Kanzlei eingerichtet hatte, mit ihm Tee zu trinken. Das geschäftige Kommen und Gehen seiner Partner und Praktikanten im Flur stand in krassem Gegensatz zu der Abgeklärtheit dieses Mannes, der hier wie überall sonst
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