Der Fall Sneijder
nach seinem eigenen Rhythmus lebte – ebenso bedächtig wie die Melodie seiner Sätze, die er mit größter Sorgfalt ziselierte, ohne sich jemals die geringste Nachlässigkeit zu erlauben oder das kleinste Zugeständnis an irgendeine Dringlichkeit zu machen. Er schloss die Tür hinter uns, und plötzlich – die reinste Magie – hörteder Mahlstrom des geschäftigen Treibens auf. Das Licht, das gedämpft durch die naturfarbenen Baumwollvorhänge fiel, überstäubte jeden kleinsten Gegenstand und liebkoste die patinierte Oberfläche des naturfarbenen Ledersofas. In diesem Raum schien es, als hätte Wagner-Leblond mit seiner Teetasse in der Hand endlich Frieden gefunden, als wäre er befreit von dem ganzen juristischen Chaos, von den vielen Klagen, die für ihn meist nur Klagelieder waren; von den Rechtsstreitigkeiten, die ihn zwangen, in die Keller der Hochhäuser hinabzusteigen, um Gegengewichte zu prüfen, Federn zu betasten, die Finger in Metallspäne zu stecken und die Arbeit der Drahtziehereien mit der Lupe zu begutachten.
Wagner-Leblond ging ans Bücherregal und kehrte mit einem Bildband zurück, der den Titel Jahreszeiten trug. Darin waren Fotos von einem Garten in Kyoto abgebildet: die Üppigkeit des Sommers, das Versprechen des Frühlings, der Schnee des Winters und das Erröten des Herbstes. Immer aus derselben Perspektive. Bildeinstellungen, die wie mit dem Lineal gezogen waren. Nichts wurde zur Schau gestellt, alles blieb auf das Wesentliche beschränkt. Bäume, Steine, Wasser. Jeder Jahreszeit war es überlassen, diese Welt einzufärben, sie erblühen oder im Eis erstarren zu lassen. Wagner-Leblond blätterte die Seiten um, die Monate vergingen, einer verdeckte den anderen. Zwischen zwei Bildern erzählte er mir Anekdoten über die chinesische Abteilung des Botanischen Gartens, die mit Hilfe der Parkverwaltung von Shanghai gestaltet worden war. Die Hauptelemente der vielen Pavillons waren von fünfzig spezialisierten Kunsthandwerkern in China zusammengestellt worden. Sie hatten nicht weniger als hundertzwanzig Container benötigt, um diese entfernte Welt bisnach Quebec zu transportieren. Der Mann neben mir hatte ganz offensichtlich alle Verfahrensregeln, die Geheimnisse der Gesetzesbücher oder die Zulassung bei der Rechtsprechung vergessen. Er hatte nur noch die Eingänge zu jenen asiatischen Höfen im Kopf, über denen die Sterne des Wohlstands, des Glücks und der Langlebigkeit funkelten. In diesen Momenten war Charles Wagner-Leblond nur noch ein aufmerksamer Spaziergänger, der von Buch zu Buch durch das baumüberwucherte Gedächtnis der Welt schlenderte. Die meisten dieser japanischen und chinesischen Gärten kannte er bis ins Kleinste, ohne dass er je dort gewesen wäre. Er kannte sie so gut, dass er mit geschlossenen Augen jeden Pfad hätte entlangspazieren können. Er wusste jedoch, dass ihm nie genug Zeit dafür blieb, dass er mehr als ein Leben brauchte, wenn er sie alle besuchen wollte. Also begnügte er sich mit den Bildbänden, die geordnet in greifbarer Nähe standen. Sie warteten auf ihn, und um die Gärten zu besuchen, brauchte er nur die Tür zuzumachen und sich mit ihnen in diesen weißen Raum einzuschließen, in den nichts hineinsickerte vom Tumult der Gerichtssäle.
Wagner-Leblond strich über den Buchdeckel und schob das Buch ins Regal zurück. Er lächelte wie ein freundlicher Lehrer, der sich an den Pausen auf dem Schulhof ergötzt.
»Wenn doch nur die Welt genauso sein könnte! Wissen Sie, woran ich gerade arbeite? Ich traue mich kaum, es Ihnen zu erzählen. An Fällen, die für diese Jahreszeit typisch sind, den sogenannten ›Weihnachtsaufzügen‹.«
»Was ist das?«
»Ein Spiel, das die Stadtkinder lieben, besonders in New York. Nach den Festtagen sammeln sie zwei oder drei größereWeihnachtsbäume auf, stecken sie in einen Aufzug, drücken auf den Knopf der obersten Etage, und bevor die Ladung abhebt, stecken sie sie in Brand. Während der Auffahrt verwandeln sich die Äste in lodernde Fackeln, und das Feuer nimmt solche Ausmaße an, dass es den Aluminiumrahmen, an dem die Seile befestigt sind, für gewöhnlich zum Schmelzen bringt. Die gesamte Struktur gibt nach, und am Ende stürzt eine wahre Brandbombe den Schacht hinab und schlägt unten auf. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich Elisha Grave Otis, als er 1853 letzte Hand an seine Fahrstühle legte, nicht vorstellen konnte, dass man eines Tages derartigen Gebrauch von ihnen machen würde.«
»Und wen vertreten
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