Der Fall Sneijder
war, nicht davor zurückschrecken würde, ein Rudel Hunde auszuführen – immer vorausgesetzt, er müsste noch einmal von vorne anfangen, nachdem ihm der Himmel auf den Kopf oder er vom Himmel gefallen wäre, was ungefähr auf dasselbe hinausläuft.
Diesen Himmel wollte, wie ich gestern Abend entdeckt habe, der Architekt Frank Lloyd Wright 1956 am höchsten Punkt seines berühmten Mile High Illinois befestigen, für das er den Grundriss entworfen und die Stahlkonstruktion gezeichnet hatte. Wie der Name verrät, sollte das Gebäude tausendsechshundertneun Meter hoch und, als würde das nicht genügen, mit einer hundertsiebenundzwanzig Meter langen Antenne versehen werden. Fünfhundertachtundzwanzig Stockwerke, von denen die letzten zehn ausschließlich dazu da wären, das Maschinenwerk der Aufzüge zu beherbergen: insgesamt sechsundsiebzig; Ungetüme, die dank einer Vorrichtung von Zahnrädern an der Außenfassade hinauf- und hinunterfahren, fünfstöckige Expressaufzüge, die mit neunzig Stundenkilometern zum Himmel klettern sollten. Die Frage nach der Steuerung dieses Systems hatte den Fachleuten und Geldgebern das Blut in den Adern gefrieren lassen. Und so war der Wolkenkratzer ein Luftschloss geblieben. War nie auf der Erde gelandet. Aber er geisterte noch immer auf den Zeichenblättern herum, spukte wie die Versuchung einesDemiurgen, wie ein weißer Wal durch die Hirne von Abenteurern. Gelegentlich kramte man seine Pläne wieder hervor und startete neue Berechnungen. Beängstigende Berechnungen mit entsetzlichen Ergebnissen. Denn nach modernen Normen würden nicht nur sechsundsiebzig Megakabinen benötigt, sondern zweihundertfünfundzwanzig riesige Gondeln, um einen Koloss von solchen Ausmaßen zu versorgen.
Deswegen war ich am Tag zuvor so schlecht eingeschlafen. Wegen des Wright-Projekts. Wegen all der Dinge, die man begriff, wenn man es auseinandernahm. Es machte vieles klar. Es bestätigte, was ich bereits gelesen hatte. Wenn man die Wahrheit der modernen Welt genauer unter die Lupe nahm und tiefer in die Ära der Vertikalität einstieg, stellte man fest, dass sich der Aufzug tatsächlich im Zentrum aller Dinge befand.
Ich wurde von einem leichten Acetongeruch geweckt. Noch bevor ich die Augen geöffnet hatte, wusste ich, dass er aus dem Badezimmer kam, wo Anna gerade farblosen Nagellack auftrug. Dentyne Splash beim Einschlafen, Gemey Maybelline Express Finish beim Aufstehen. Ich war sicherlich der Erste in der langen Linie der Sneijder, dem eine so seltsame Behandlung zuteilwurde. Meine Vorfahren hatten im Geruch von Feuer und Glut das Eisen geschlagen, und ich wurde im Bett von dem fauligen Wohlgeruch der Kosmetika und den verschlagenen Aromen der Zahnarztpraxen umfangen. Ich fragte mich, wie es kam, dass ich das alles schon so lange ertrug, unter dem Vorwand, dass Anna eines Tages zwei unerträgliche Zwillinge in die Welt gesetzt hatte, deren halbe Elternschaft mir bestenfalls ein missratener Chromosomensatz und ein opiumabhängiger Genetiker unterstellen konnte …
Jedes Wochenende begann mit diesem süßlichen Nagellackgeruch. Das wusste ich. Und doch konnte ich nicht umhin, einen gewissen Groll gegen dieses Produkt zu hegen, was zugegebenermaßen keinen vernünftigen Grund hatte.
In der darauffolgenden Stunde würde Anna auf dem Atwater-Markt einkaufen gehen. Dann würde sie telefonieren, Zeitung lesen, ihre E-Mails sortieren, und abends würde sie ihre unentbehrlichen Söhne anrufen, ihren einzigen Halt, um ihnen zu sagen, wie wichtig sie für die Zukunft von Bell geworden war und wie sehr ich ihr zur Last fiel. Wenn sie es nicht bereits getan hatte, würde sie ihnen sicher in aller Ausführlichkeit schildern, wie erbärmlich meine neue Anstellung war, um ihnen meinen Niedergang drastisch vor Augen zu führen. »Hundeausführer, kannst du dir das vorstellen?« Ich sah sie schon lebhaft vor mir. »So weit ist es mit eurem Vater gekommen.« Dann würde sie ihr Arbeitszimmer verlassen und beim Fernsehen kleine, nervtötende Häppchen von einer großen Auswahl industriell zubereiteter Rohkost zu sich nehmen. In diesem egoistischen Menü gab es keinen Platz für mich. Aus seinem Inhalt und seinem Design könnte ein Semiologe eine ganze Reihe von Schlüssen ziehen, die es ihm erlauben würden, die unterschwelligen Botschaften meiner Frau für mich zu übersetzen: Wenn du Hunger hast, koch dir Nudeln; ich habe keine Lust zu reden; ich kann sehr gut alleine hier sitzen; es würde nicht schaden, wenn du
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