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Der Fall Sneijder

Der Fall Sneijder

Titel: Der Fall Sneijder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Paul Dubois
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im Schnee kniete, blieb Charlie die ganze Zeit neben mir sitzen. Sie sah mich an, wie sie schon immer die Menschen angesehen hatte. Mit ihren schwarzen, tiefen, forschenden Augen. Den Augen eines geduldigen Hundes, der darauf wartete, dass das Leben wieder seinen Lauf nahm und uns zu den Lichtern der Häuser führte. In meiner Absence hatte sich mein Handgriff gelockert, und ich hatte die Leine losgelassen. Die Hündin war frei. Doch sie nutzte es nicht aus.
    Mit dem dunklen Cape und dem aschfahlen Gesicht sah ich vermutlich aus wie ein Gespenst. Als Jean Bréguet die Tür öffnete, sagte ich bloß: »Ich bringe Ihnen den Hund.« Bevor er mir anbot einzutreten, um mich einen Augenblick aufzuwärmen, war ich auch schon wieder in die Dunkelheit verschwunden. Immer geradeaus. Alle Hunde, die ich in meinemLeben gehabt und eigenhändig beerdigt hatte, liefen an meiner Seite. Sie waren alle da, ausnahmslos alle, ganz nah, unseren gemeinsamen Erinnerungen treu, liebevolle Marksteine eines Lebens. Wir bildeten ein unauflösliches Gespann. Ein voranschreitendes Gedächtnis.
    Es folgte die Abenteuerfahrt im Bus. Müde Gesichter. Und jedes Mal, wenn ein neuer Fahrgast einstieg, Angst vor einer neuen Panikattacke. Juckreiz. Und dann wieder die Schritte, um bis nach Hause zu gelangen. Als ich den Fuß auf die Schwelle setzte, wurde für eine Sekunde die Sirene der Alarmanlage ausgelöst, bevor sie offenbar entdeckte, dass ich es nur war, und sie ihr Geheul wieder einstellte.
    Warmes Wasser hat mich schon immer mit meinem Körper versöhnt. Es reinigt ihn nicht nur, sondern vermag ihn von allen Ängsten und sogar vom Schmerz der Müdigkeit zu befreien. Es konnte jedoch nichts gegen diesen rötlichen Ausschlag ausrichten, bei dem ich mich am liebsten bis aufs Blut gekratzt hätte. Das Übel dehnte sich nicht weiter aus, aber es schien sich einzukapseln, tief in der Haut einzunisten, es sich bequem zu machen.
    Ich war noch ganz fassungslos über das, was mir im Wald widerfahren war. Möglicherweise hing es mit dem Unfall zusammen, aber das ging niemanden etwas an. Ich musste aufpassen. Durfte mich nicht noch einmal überrumpeln lassen. An der Badezimmertür fragte Anna:
    »Wie ist es gelaufen?«
    »Es schneit. Es ist kalt. Ich führe Hunde aus, ich bringe Hunde zurück, ich fahre Hunde nach Hause. Morgens und abends steige ich in den Bus. Und ich habe am ganzen Körper Ausschlag.«
    Die Erwähnung dieser Dermatose weckte schlagartig die Hygiene- und Prophylaxeversessenheit meiner Frau. Instinktiv wich sie ein Stück zurück, als fürchtete sie eine Ansteckung. Sie betrachtete meine Handgelenke aus einem guten Meter Abstand und verzog das Gesicht, wobei ich nicht wusste, ob aus Sorge oder aus Ekel:
    »Du musst unbedingt jemanden deswegen aufsuchen.«
    Während unseres ganzen gemeinsamen Lebens hatte Anna jedes Mal, wenn wir mit einem Problem gesundheitlicher oder anderer Natur konfrontiert wurden, gesagt: »Du musst jemanden deswegen aufsuchen.« Diese Beschwörungsformel hatte etwas Magisches. Diesen »jemand« zu beschwören, der irgendwo über uns schwebte und den Schlüssel zu allem besaß, glich bei ihr einem Glaubensbekenntnis. Sie war sicher, dass es genügte, diesen Schamanen aufzusuchen und ihm die Sache zu zeigen, damit die Wunden verheilten. Mit der Zeit hatte ich entdeckt, dass meine Frau einerseits zwar in einem ultramodernen Kokon lebte, es andererseits aber auch eine geistige Hinterbühne gab, auf der die heimischen Skrofeln kraft magischer Zauber geheilt werden konnten.
    Im oberen Stockwerk erwartete mich, auf meinem Schreibtisch verteilt, eine andere Welt mit einer Unmenge von Notizen, ebenso fragmentiert und parzelliert wie der Zubehörkatalog von Elevator World .
    Wie funktioniert das? Dies war die einzige Frage, die noch Gültigkeit besaß. Soweit ich mich erinnern kann, hat diese Frage jeden Moment meines Lebens begleitet. Eine unersättliche Neugierde für die Menschen und die Welt. Versuchen zu begreifen. Alles, was uns umgibt, zu verstehen. Vom Common-Rail-Dieselmotor bis zum Flammpunkt der Phenylethylamine.Wissensbröckchen anhäufen. Unzählige unnütze Dinge. Die alle verbunden waren und ein seltsames Werkzeug ergaben, in etwa so wie eine Multifunktionszange.
    Ich wusste, wie ein Aufzug funktionierte. Wenn man mir das Ladegewicht der Kabine nannte, konnte ich die Zugfestigkeit jedes Tragseils berechnen. Ich wusste alles über die Auslösemechanismen der »Fangvorrichtungen«. Und doch begriff ich noch immer

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