Der Fall Sneijder
nicht, warum Marie hier, neben mir, in ihrer Urne war und warum ich beschlossen hatte, in Gesellschaft von Hunden zu leben. Jeden Abend versuchte ich ein halbwegs nachvollziehbares Theorem aufzustellen, das sich jedoch schon beim ersten Morgenlicht in Kreidestaub auflöste. Ich konnte noch so oft wiederholen, dass die Bandbreite zu schmal war, um die Eleganz und Radikalität meiner Beweisführung zu fassen, niemand nahm mich ernst. Manchmal fragte ich mich, ob »wie funktioniert das« überhaupt die richtige Frage war. Vielleicht befand ich mich von Anfang an auf dem Holzweg. Wenn man ein Problem hat, liegt die beste Lösung dann nicht darin, sich von seiner Last zu befreien und »jemanden aufzusuchen«, anstatt alles selbst regeln zu wollen? Doch dies konnte ich aus tausendundeinem Grund nicht glauben.
Im Licht der Schreibtischlampe sah die Dermatose an meinem Handgelenk wie ein breites rotes Band aus. An den Armen und am Hals waren die Flecken etwas vereinzelter und sahen weniger wie Geschwüre aus. Die unverständlichen Wortfetzen einer Fernsehsendung drangen aus dem Erdgeschoss nach oben. Normalerweise wäre mein Platz unten, neben Anna, gewesen, um zu hören, was die Welt erzählte. Aber seit dem Unfall hatte sich einiges verändert. So wie eineMenschenmenge ein Engegefühl in meiner Brust hervorrief, konnte ich mir auch nicht mehr vorstellen, mit meiner Frau zu duschen, an ihrer Seite vor dem Fernseher zu sitzen – diese Vorstellung glich für mich einer Extremerfahrung; ich traute sie mir einfach nicht zu.
SECHS
Ich war aus dem Koma erwacht. Und nun ging ich in Gesellschaft von Hunden spazieren. Ein Ereignis stand bevor. Eine unmerkliche Veränderung. Was auch immer meine Frau denken mochte, ich kam allmählich wieder zu mir. Jeden Abend, wenn ich an meinem Schreibtisch saß, arbeitete ich, las ich, suchte ich. Auch dazu eignete sich ein Unfall: die Gründe für das Unglück zu begreifen; die Maschine auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen; die Dicke des Schmieröls und das Gewinde des Schraubenbolzens zu ertasten; die Technik in ihrer Ganzheit zu betrachten. Damit meine ich, ihre Rolle, ihre gesellschaftliche Funktion und ihre wahre Bedeutung einzuschätzen. Sich von der Tarnung nicht täuschen zu lassen. Die verborgenen Dinge hinter den Dingen zu erkennen, sich nicht nur für das zu interessieren, was mit bloßem Auge erkennbar ist. Zum Beispiel für Aufzüge. Die uns nach oben fahren, aber auch hochfahren lassen.
»Willst du morgen nicht jemanden aufsuchen?«
Seitdem meine Haut angefangen hatte, Quaddeln zu bilden, war meine Frau aufmerksamer geworden und zeigte eine ungewohnte Anteilnahme. Natürlich bloß aus Sorge vor einer möglichen Ansteckung.
»Ich werde sehen, wie es sich bis morgen entwickelt, aber es ist nicht ausgeschlossen.«
»Soll ich dich irgendwo absetzen?«
»Bei der Arbeit?«
»Nein, beim Arzt.«
Der Schlaf kam nicht. Resigniert wartete ich wie ein Reisender, der auf den Bus lauert, von dem keiner weiß, wann noch ob er je kommt. Manchmal, wenn ich mit weit geöffneten Augen im Dunkeln lag, hatte ich den Eindruck, meine Zunge würde anschwellen und ebenso hart werden wie ein Stück Holz, das meinen gesamten Mund ausfüllte. Natürlich bildete ich mir das nur ein, aber die Empfindung war so täuschend echt, dass ich sie extrem abstoßend fand. In diesen Momenten versuchte ich an etwas anderes zu denken, zum Beispiel an die Zwillinge, bis der Muskel allmählich wieder ein bescheideneres Ausmaß annahm, ein wenig wie die erschlaffende Erektion eines Satyrs. Das Gehirn brauchte manchmal nicht viel, um Spaß zu haben.
Aus Barmherzigkeit werde ich kein Wort über das Gesundheitssystem von Québec verlieren, das im Übrigen sehr leistungsstark war, sofern man über genügend Geduld und eine halbwegs stabile Anzahl von Gammaglobulinen verfügte, um einer Krankheit etwa fünfundvierzig Tage die Stirn bieten zu können, was der durchschnittlichen Wartezeit für einen Termin entsprach. Die Übermotiviertheit meiner Lebensgefährtin und ihr ansehnliches Beziehungsportfolio katapultierten mich, wie immer, noch am selben Morgen zu einem Hautarzt, der mich zwischen zwei Patienten schob.
»Ein einfaches Ekzem.«
Der Facharzt trug ein bayerisches Jackett mit Lederkragen.
»Haben Sie schon einmal einen Ausschlag gehabt?«
»Noch nie.«
»Hat sich in Ihrem Leben kürzlich etwas geändert? Probleme bei der Arbeit, die Einnahme eines neuen Medikaments?«
»Nein, nichts.«
»Keine
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