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Der Fall Sneijder

Der Fall Sneijder

Titel: Der Fall Sneijder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Paul Dubois
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recht, der Hund trug bestimmt die Erinnerung an eine untergegangene Welt in sich, an eine Zeit, da der Mensch Hunde wie ihn zum Zeitvertreib losschickte, damit sie sich gegenseitig töteten. Wir drehten eine friedliche Runde, Herr und Hund, im gegenseitigen Vertrauen. Die Kälte, die mein Ekzem sehr viel wirkungsvoller betäubte als die Kortikoide, schien von seinem dichten Fell regelrecht abzuperlen.
    »Wissen Sie, Paul«, bemerkte Charisteas, »ich habe hier über die Jahre eine Menge Typen ein- und ausgehen sehen. Sie haben sich als Dresseure ausgegeben und behauptet, alles über Hunde zu wissen. Aber sobald es darum ging, Julius, den Akita, auszuführen, hatten sie immer etwas Dringenderes zu tun. Bei Ihnen ist es das Gegenteil. Man merkt sofort, dass Sie überhaupt keine Ahnung von diesen Viechern haben. Aber genauso offensichtlich ist es, dass sie Sie mögen. Wenn ich sehe, wie dieser Akita sich nach dem Spaziergang in aller Ruhe neben Sie setzt, traue ich kaum meinen Augen. Und wissen Sie was? Noch erstaunlicher ist, dass ein Kerl wie Sie mit einem so unglaublichen Händchen allergisch auf Hunde reagiert.«
    Das Leben, dieser Individualsport, der angesichts seiner absurden Regeln von einem bipolaren Engländer hätte erfunden sein können, bewies seinen Sinn für Humor und überließ es ausgerechnet diesen Hunden, deren Man-weiß-schon-was ich aufhob, mir ein Stückchen jenes Vertrauens und jenerSanftmut zu schenken, die mir die meisten meiner Angehörigen seit Langem verweigerten.
    Ich war mir der Tatsache vollkommen bewusst, dass ich seit dem Unfall nicht mehr derselbe war. Anna glaubte, der Sturz habe mich den Verstand gekostet oder mich zumindest so schwer aus der Bahn geworfen, dass meine früheren Macken und Schwächen nun offen zutage traten. Es gab für sie keinen Zweifel daran, dass dieser pathologische Zustand des fachlichen Rats eines Spezialisten und einer entsprechenden Behandlung bedurfte. In der Hinsicht vertrat ich natürlich eine ganz andere Meinung. Mochte ich auch die leichten Verwerfungen, von denen sie sprach und die sie angeblich beunruhigten, selbst spüren, so hatte ich doch den Eindruck, dass sie mir erlaubten, den Mechanismus des Lebens von einem anderen Standpunkt, aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Ich verspürte ganz legitimerweise die Notwendigkeit, bestimmte Dinge selbst zu prüfen und mit neuen Augen zu betrachten. Um dies zu erreichen, arbeitete ich jede Nacht. Ich lernte. Las Berichte. Protokolle, in denen normale Menschen von ihren Phobien sprachen: »Ich habe keine Angst davor, in einem Aufzug zu sterben. Ich habe auch keine Angst, er könne eine Störung haben und abstürzen. Nein, was mich mehr als alles andere in Panik versetzt, ist die Vorstellung, in der Kabine mit mir selbst stecken zu bleiben.« In einem anderen Dokument entdeckte ich, dass die oberste Regel bei den Aufzugherstellern lautete, niemals einen Spiegel in die Kabine einzubauen. Es galt als gesichert, dass ein solches Accessoire den Fahrgästen in diesem engen geschlossenen Universum ein mulmiges Gefühl bereiten würde, als ertrügen sie es nicht zu sehen, dass »sie mit sich selbst eingesperrt sind«. Icherfand nichts. Ich sammelte. Ich häufte Berichte von Händlern und Therapeuten an. Und ich hatte nicht den Eindruck, dass dies einen Verrückten aus mir machte.
    Ich war nur ein aufmerksamerer Mensch geworden. Ein Mensch, der sich umsah. Diese Eigenschaft teilte ich mit den Hunden, zumindest mit einigen von ihnen. Die Fähigkeit, wach- und schweigsam zu sein; wie der Akita jede Veränderung des Bildes auf der Netzhaut zu registrieren; versuchen herauszufinden, was diese Veränderung für Folgen haben mochte; anders gesagt, die Fähigkeit, mitten im Leben zu stehen, ohne es aus den Augen zu verlieren. Diese Verhaltensweise war bei den meisten Tieren natürlich und angeboren, ich für meinen Teil entdeckte sie erst jetzt. Ein wenig so, als hätte mich der Unfall in jene entfernte Zeit zurückgeworfen, in der das Leben noch ein kostbares, zerbrechliches Gut war, auf das man gut achtgeben musste.
    Den restlichen Nachmittag verbrachte ich mit drei weiteren Spaziergängen. Dann bat mich Charisteas, Charlie allein auszuführen und sie anschließend nach Hause zu bringen, sobald ich Watson abgegeben hätte. Ich würde also an den Ort meines ekstatischen Kniefalls zurückkehren, noch immer mit meiner Tier-Mönchskutte bekleidet, noch immer verquaddelt, aber mit einem Panzer aus Kortison

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