Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Fall Sneijder

Der Fall Sneijder

Titel: Der Fall Sneijder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Paul Dubois
Vom Netzwerk:
Welt, die verlangte, dass nach jeder Zeigerrunde ums Ziffernblatt ein Mensch mit einem Tier ausging, ganz gleich, wie das Wetter war, ob Schnee oder Wind herrschten. Also machten wir gute Miene zum bösen Spiel und stapften los. Während sich manche Windböen wie kleine Nadeln in unsere Körper bohrten oder uns heftige Ohrfeigen verpassten, hielten wir uns ans Protokoll und blieben auf dem schmalen Pfad, dersich im Schnee abzeichnete. Die Zeit plätscherte dahin wie das Wasser einer Fontäne, ohne die geringste Spur, den kleinsten Abdruck zu hinterlassen.
    Gelegentlich tauchte ich aus dieser weißen Benommenheit auf und fragte mich, was ich hier eigentlich trieb und was die wahren Gründe dafür waren, dass ich mich täglich dieser Prozedur unterwarf. Doch kaum hat mich die Frage gestreift, tauchte ich auch schon wieder in meinen Stumpfsinn ein und ging weiter meines Wegs.
    »Der Hundefriseur lässt Ihnen ausrichten, dass er Ihre Hunde zum letzten Mal nimmt, wenn Sie ihm in Zukunft nicht früher Bescheid geben.«
    »Was will dieser Armleuchter denn? Mir ist es egal, was er erzählt. Ich bringe ihm Hunde, und er wäscht sie, Schluss, Punkt, aus. Er verdient seinen Lebensunterhalt mit mir. Soll er doch einpacken, wenn er die Arbeit nicht mehr machen will. Diese verfluchten Griechen sind alle gleich.«
    »Sind Sie nicht selbst einer?«
    »Soll das ein Witz sein? Ich bin Zypriote. Zypriote aus Limassol.«
    Als ich wieder auf meinen Schneepfad zurückkehrte, um Watson und Charlie, meine zukünftige Varietépartnerin, zu ihrem jeweiligen Besitzer zurückzubringen, hatte der Wind die Temperatur noch weiter sinken lassen. Das Haus von Cudmore wirkte imposanter und einschüchternder als am Vortag. Die Haustür ging auf und der Besitzer stand vor mir, ebenso stattlich wie sein Haus.
    »Guten Abend, ich bringe Ihnen Watson.«
    »Ich sehe, er ist ja schon wieder völlig durchnässt. Bei dem Wetter wäre es nett, wenn Sie ihn im Auto nach Hause brächten.Ich zahle auch dafür. Sagen Sie, wurde der Hund gestern ausgeführt und hat er gemacht, was er machen soll?«
    »Hundertprozentig, ich habe ihn ausgeführt.«
    »Sind Sie sicher, ich meine, dass er sein Geschäft gemacht hat?«
    »Ich bin mir sicher.«
    »Dann wird es wohl nötig sein, einen Verhaltenstherapeuten aufzusuchen, und zwar schnell.«
    »Gab es ein Problem?«
    »Kaum habe ich gestern Abend die Tür geschlossen, hat sich diese Dreckstöle im Eingang erleichtert.«
    Die Dunkelheit brach herein, während ich noch auf dem Weg zu Charlies Besitzer war. Die Hündin und ich gingen einen Waldpfad entlang. Gelegentlich löste sich Schnee aus den Ästen und fiel herab. Hin und wieder hörte man, wie sich der Wind in den Baumwipfeln verfing und wie ein wütender Zug zu pfeifen begann. Charlie und ich liefen im Gleichschritt, ganz darauf konzentriert, vorwärtszukommen; da spürte ich auf einmal, dass mich, ohne ersichtlichen Grund, ohne Vorwarnung, das Leben verließ, in den Wald ausströmte. Mein gesamtes Leben. Jedes kleinste Partikel. Die Kälte zog in meine Brust ein und mit ihr eine unsagbar tiefe Leere und Traurigkeit, die aus grauer Vorzeit zu stammen schien. Meine Muskeln erschlafften, erneut hatte ich den Eindruck, dass sich irgendwo ein Seil löste, und ich fiel im Schnee auf die Knie. Meine Versuche aufzustehen waren vergebens. Ich konnte nicht mehr die kleinste Bewegung machen. Ich war ohne Leben, ohne Halt, ohne Familie; ich hatte nichts, das mir wieder aufhelfen konnte. Es war kalt, alle Menschen, die ich je geliebt hatte, waren tot. Marie im Fahrstuhl. Keinerwürde je erfahren, was ich gesehen hatte. Meine Tochter war aus dieser Welt geschieden, sie war die Gefangene meines kalten Gedächtnisses. Nichts würde sich jemals mehr ändern. Mir blieb nur ihre Asche, die sich nicht verbrennen ließ. Aufzüge gingen in den Weihnachtsnächten in Flammen auf. Die Sneijders bauten ihre Boote, die zu Wasser gelassen wurden. Bis zu dem Tag, an dem man sie beerdigen würde. Bastiaan hatte Flugzeuge gebaut. Bis zu dem Tag, an dem man ihn beerdigt hatte. Meine Mutter war mir noch oft nahe. Wenn ich in einen Bus stieg oder mich an den Schreibtisch setzte, versuchte sie immer, mich davon zu überzeugen, dass sich die Dinge schon einrenken würden. Aber heute Abend blieb sie stumm. Es gab kein Licht mehr. Nur noch Dunkelheit. Und die Hündin und mich im Schnee. Ich war eine schlaffe Gliederpuppe. Tränen liefen mir übers Gesicht, aber ich spürte keinen Kummer. Während ich reglos

Weitere Kostenlose Bücher