Der Fall Sneijder
Olive am Grund eines Martiniglases verwandeln sollte, hätte ich gern ein wenig Zeit mit ihr allein verbracht und ihr von der Infrawelt der Fahrstühle erzählt. Nicht um zu glänzen oder sie vergeblich zu verführen – dafür gab es tauglichere Gebiete –, sondern einfach um herauszufinden, ob eine Frau wie sie, deren Schönheit mir ein Stück Menschlichkeit zurückgab, den Gedanken zulassen konnte, dass ein Fahrstuhl bei Weitem mehr als ein Transportmittel war. Ich hätte ihr gesagt, dass dieser kleine Käfig ein Mikrokosmos war, der die gesellschaftlichen Regeln und Privilegien im Kleinen reproduzierte. Dass es kaum vorstellbar war, welch zentrale Rolle diese Maschinen in unserem Leben spielten, und auch nicht, wie ausgereift die Studien waren, die ihrer Installation vorausgingen. Zu viele Apparaturen, zu viele Kabinen kosteten ein Vermögen und brachten kaum zusätzlichen Nutzen. Wenn der Bedarf hingegen unterschätzt wurde, konnte dies zur Katastrophe führen, das Leben in einem Hochhaus unmöglich machen, seinen Ruf und seinenWert ruinieren. Ich hätte versucht, ihr zu verdeutlichen, dass sich der Point d’accord, wie bei der Violine, immer zwischen der höchsten Anspannung des Seils und der Schwelle zum Reißen befindet, in der Grauzone der Grafiken.
War es klug, die Aufmerksamkeit dieser Frau auf die rasenden Fahrten der Schindler und Kones zu lenken? Mit ihr über Stirling Moss zu reden? Über Elevator World ? Über John J. Fruin oder Wright? Natürlich nicht. Das ergab keinen Sinn. Ich konnte mir jetzt schon lebhaft vorstellen, wie sie aufstand, anmutig in ihren Mantel schlüpfte, die Arme in das moirierte Futter steckte, lässig den Gürtel um ihre Taille band und mich mit den Worten stehen ließ: »Ich muss los.« Ich hätte ihre Flucht verstanden. Sie wäre völlig legitim gewesen. Aber ich musste weitersuchen.
An diesem Morgen arbeitete ich nicht. Wegen des Wettbewerbs am nächsten Tag hatte Charisteas mir einen freien Tag »zur Vorbereitung« gewährt. Wie zum Teufel hätte ich mich auf eine solche Eselei vorbereiten können? »Sehen Sie sich die Kassette an und prägen Sie sich die Ratschläge und Gesten gut ein«, hatte er hinzugefügt. Ich ärgerte mich maßlos, dass ich mich auf dieses Unternehmen eingelassen hatte. Der Autohändler hatte mich um den Finger gewickelt. Ja, ich fragte mich sogar allmählich, ob er diese blendend schöne Frau nicht gar um ihre Anwesenheit gebeten hatte, um seinen Argumenten den nötigen Nachdruck zu verleihen. Ich war beinahe überrascht, dass er die Situation nicht genutzt hatte, um mich am Tisch ein Bestellformular für einen Chevrolet Impala »full loaded« unterzeichnen zu lassen. Doch es war ungerecht von mir, Bréguet Vorwürfe zu machen. Der einzig Schuldige in der Angelegenheit war ich. Wie üblich hatte ichmich bereit erklärt, eine bestimmte Rolle zu übernehmen, obwohl jede einzelne Faser meines Körpers mich beschwor, sie abzulehnen. Gegen elf Uhr rief mich Wagner-Leblond an und lud mich ein, in seiner Gesellschaft im Botanischen Garten spazieren zu gehen. Sein Vorschlag bereitete mir große Freude, und wir beschlossen, uns bei mir zu Hause zu treffen. Sorgfältig vergewisserte ich mich, dass das Alarmsystem ausgeschaltet war, und wartete dann mit jener typischen Nervosität, die einer ersten Verabredung vorausgeht, auf meinen Gast.
»Ich habe Ihnen eine Kleinigkeit mitgebracht. Einen Bonsai Beni Shitan, auch Cotoneaster genannt. Diese Spezies wächst im Westen Chinas. Sie ist widerstandsfähig, winterfest und lässt sich leicht stutzen.«
Wagner-Leblond hielt das Bäumchen in den Händen und überreichte es mir wie eine Gabe, mit jener typisch asiatischen Zurückhaltung, die er sich immer mehr zu eigen machte.
»Ihr Haus ist schön hell, sehr angenehm. Und dann wohnen Sie auch noch gleich am Park Maisonneuve, nur zwei Schritte vom Botanischen Garten entfernt.«
Wir wählten die Rue Viau, um zu den verschneiten chinesischen Pavillons und den japanischen Brücken zu gelangen. Letztere überquerten wir wie Spaziergänger, die noch ihr ganzes Leben vor sich hatten. Aber als wir in die Nähe des »Sterns der Langlebigkeit« kamen, machte Wagner-Leblond diesen Eindruck gleich wieder zunichte: »Dieses Symbol erinnert uns daran, dass wir Hoffnung haben dürfen. Wir müssen uns aber immer vergegenwärtigen, dass in jedem Augenblick,ganz gleich wo wir gehen und stehen, ein höheres Wesen über Leben und Tod entscheidet.«
Diese Dinge hörte ich nicht
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