Der Fall Sneijder
Entscheidung verstoßen Sie gegen Ihre eigenen Interessen.«
»Warum?«
»Bevor ich Ihnen antworte, und zwar ganz gleich, wie dieSache ausgehen wird, müssen wir, also Sie und ich, uns in einem Punkt einig sein: Diese Unterhaltung hat niemals stattgefunden.«
»Selbstverständlich.«
»Bei einer Aktenlage wie Ihrer bin ich davon überzeugt, dass sich ein Gericht angesichts des Schadens, den Sie erlitten haben, angesichts des Verlusts Ihrer Tochter und Ihrer Verletzungen viel großzügiger zeigen wird als eine Handvoll Aktionäre, die sich, meinem Ratschlag folgend, auf die Verwässerung der Verantwortung berufen und Ihnen eine Entschädigungssumme anbieten werden, die nicht im Entferntesten an das Schmerzensgeld heranreichen wird, das Sie in einem Prozess erstreiten könnten. Ein weiterer Punkt, den es zu bedenken gilt: Die Aktionäre wissen genau, dass die Folgen durch den Medienrummel und ihre eventuelle Verurteilung nur eine lokal begrenzte Wirkung haben. Auch aus diesem Grund ist damit zu rechnen, dass ihr Angebot gering ausfällt.«
»Ich verstehe, aber ich habe keine Lust, vor Gericht zu ziehen. Ich habe keine Lust, die Geschichte wieder aufzurollen, alles, was passiert ist, ein zweites Mal zu durchleben, gegen das Unternehmen zu klagen, und noch weniger gegen Sie. Was geschehen ist, ist geschehen. Ich möchte die Angelegenheit gern vom Tisch haben, und zwar so schnell wie möglich.«
»Die Gutachten sind noch in Arbeit. Die Unternehmen werden die Ergebnisse abwarten wollen.«
»Sagen Sie ihnen, dass ich eine Einigung möchte.«
»Ihr Entschluss wird sie überraschen. Und zwar eher angenehm überraschen, da bin ich mir sicher. Aber glauben Sie nicht, dass sie sich deswegen als großzügig erweisen werden.«
»Wir werden sehen.«
»Auf die Gefahr hin, erneut gegen meine Interessen zu predigen, rate ich Ihnen, sich noch einige Tage Bedenkzeit zu nehmen.«
»Sie sind schon ein lustiger Anwalt.«
»Und Sie sind, was man ein willfähriges Opfer nennt.«
Ich begleitete Wagner-Leblond zu seinem Auto, das er vor dem Haus geparkt hatte. Es war ein alter Saab 900, ein Modell vom Anfang der neunziger Jahre, bevor die schwedische Marke von General Motors übernommen wurde. »Wissen Sie, woher das Wort Saab stammt?«, fragte mich der Anwalt. »Es ist das Akronym des schwedischen Flugzeugbauers ›Svenska Aeroplan Aktiebolaget‹.« Der Rost hatte Löcher in den unteren Teil der Karosserie gebohrt und knabberte bereits an den Kotflügeln und Türen. Auf der Kofferraumklappe und der Motorhaube schimmerte die braune Seele der Karosserie unter dem abplatzenden Lack durch.
Anna hatte die ganze Szene vom Wohnzimmerfenster aus verfolgt. Als ich ins Haus kam, fragte sie mich:
»Wer ist der Kerl, mit dem du gesprochen hast?«
»Niemand.«
Hätte ich ihr die Wahrheit gesagt, hätte sie mir nicht geglaubt.
Meine Begegnung mit Charles Wagner-Leblond war gewiss seit Langem das Beste, was mir passiert war. Er besaß jene Charakterstärke, die ich von meinem Vater kannte. Sie beherrschten alle beide die seltene Kunst, mich mit der Welt zu versöhnen und, was noch schwieriger war, mit mir selbst. Diese Chiropraktiker der Seele vermochten es, geschickte und unauffällige Manipulationen an einem vorzunehmen, sodassman nach Verlassen der Praxis wieder geschmeidige Gedanken hatte, gelöst und befreit war von den tausendundeinen Verspannungen, die man sich im Laufe der Tage zugezogen hatte. Bastiaan und Charles hatten noch etwas anderes gemeinsam: Sie gehörten zu jenen Männern, die noch Antworten gaben. Eine Seltenheit. Sie waren nicht allwissend, aber sie vertraten offenbar die Ansicht, dass man auf jede gestellte Frage wenigstens ein paar klärende Elemente beisteuern musste, damit sich jeder anschließend seine eigene kleine Wahrheit zurechtlegen konnte. Zum Beispiel vorhin im Garten hatte ich Wagner-Leblond meine Verwunderung über die Geschichten von den toten Fischen und den vom Himmel gefallenen Vögeln in Arkansas und Louisiana mitgeteilt. Und nachdem er eine Weile nachgedacht hatte, so lange, bis er die betreffende Akte in seinem Gedächtnis wiedergefunden und herausgezogen hatte, erwiderte er: »Dazu muss man wissen, dass einige Vögel, darunter auch die Rotschulterstärlinge und die Stare, wenn meine Erinnerung mich nicht täuscht, zu einer Spezies gehören, die in der Gruppe fliegen, leben und schlafen. Ich habe gelesen, dass es Kolonien von mehreren Millionen Vögeln gibt. Und nun stellen Sie sich vor, was
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