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Der Fall Sneijder

Der Fall Sneijder

Titel: Der Fall Sneijder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Paul Dubois
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gern. Seit meinem Unfall riefen derart fatalistische und düstere Betrachtungen schreckliche Bilder in mir wach, von Fleisch und Knochen, von Lärm und Blut, von Schmerz und Entsetzen, die mich nachts um den Schlaf brachten und selbst tagsüber verfolgten. Als hätte Wagner-Leblond mein Erschauern im tiefsten Innern bemerkt, fügte er eilig hinzu: »Aber das ist alles schrecklich altmodisch, düster und langweilig. Erzählen Sie mir lieber, wenn die Frage nicht zu indiskret ist, was Sie tagsüber so machen.«
    Ich beichtete ihm, gewiss weil dieser Mann mir so großes Vertrauen einflößte, in einem einzigen irrwitzigen Wortschwall die Hunde, das Ekzem, 10 Personen / 30 Stockwerke / 9,5 Stopps und sogar den Wettbewerb, der am nächsten Tag stattfand.
    »Sie führen Hunde aus? Und sie lösen allergische Reaktionen bei Ihnen aus! Na hören Sie mal, das ist ja unglaublich. Sie könnten nach einem Prozess oder Vergleich Besitzer eines kleinen Vermögens sein, aber Sie führen Hunde aus. Warum tun Sie das?«
    Genau das war die Frage. Darauf eine Antwort zu finden war meine allnächtliche Aufgabe: in den tiefen Brunnen hinabsteigen und in der Dunkelheit nach etwas suchen, von dem ich wusste, dass es da war, dass es entsetzlich war, nur hatte ich keine Ahnung, worum es sich handelte.
    »Und diese Sache mit dem Wettbewerb ist … sagen wir … in hohem Maße ungewöhnlich. Das würde man überhaupt nicht von Ihnen erwarten.«
    »Dabei wissen Sie noch nicht alles. Um einer möglichenPlatzangst vorzubeugen, unter der ich seit dem Unfall leide, mixt mir der Hundehalter, seines Zeichens Psychoanalytiker, einen Arzneicocktail, mit dem ich, wie er versprochen hat, sogar übers Wasser gehen könnte.«
    Es war das erste Mal, dass ich Wagner-Leblond lachen sah. Allerdings noch immer im Modus der Zurückhaltung: mit zusammengekniffenen Lippen, einem kleinen unauffälligen Zucken der Schultern und einem leichten Pfeifen der Bronchien – für ihn der Ausdruck tiefer Heiterkeit.
    »Ach ja, die Analytiker! Wissen Sie, dass einer meiner Nachbarn diesen Unsinn praktiziert? Er gehört einer frei erfundenen Schule an, deren Namen ich vergessen habe. Stellen Sie sich vor, er nimmt seine Patienten regelmäßig mit ins Schwimmbad, damit sie ›im Einklang mit ihrer amniotischen Entwicklungsstufe sind‹, hat er mir erklärt. Er stattet sie mit Schwimmkörpern aus und lässt sie in dem großen Bad im Wasser treiben. Und wissen Sie, was unser Freund macht, während die armen Leute im Chlor ihre regressive Phase bekommen? Er schwimmt seelenruhig seine Bahnen. Eine nach der anderen.«
    Wagner-Leblond lachte gern. Aber es war offensichtlich, dass ihm niemand die Regeln dieses Spiels beigebracht hatte. Anstatt sich dieser Empfindung völlig hinzugeben, spürte man, dass er außer Stande war, das Korsett des Anstands abzulegen. Daher hatte man den Eindruck, seine Erheiterungen, wie er sie nannte, würden ständig durch eine zu hart eingestellte Bremse gezügelt.
    Wir schlenderten durch den Botanischen Garten vom »Pavillon des grünen Schattens« über den »Hof des Frühlings«, der im Übrigen ziemlich verschneit war, bis zum »Pavillon, andem die Purpurwolken erstarren« und unterhielten uns dabei über all die unnützen Dinge, die den zerbrechlichen Panzer meines derzeitigen Lebens bildeten. Ohne je einen Buick oder ein Oldsmobile verkauft zu haben, erwies sich Wagner-Leblond als erstaunlich guter Zuhörer, der sich sowohl aufs Schweigen verstand, um ja keine Faser einer Geschichte zu knicken, als auch darauf, im passenden Moment eine Bemerkung einzuwerfen, die einen ermutigte fortzufahren. Die Unterhaltung mit ihm war ein solches Vergnügen, dass ich darüber die Kälte vergaß. Ich konnte mir nicht vorstellen, eines Tages gegen diesen Mann zu prozessieren.
    Auf dem Rückweg, diesmal quer durch den Park, stellte mir Wagner-Leblond die unvermeidliche Frage:
    »Haben Sie in unserer Angelegenheit einen Entschluss getroffen?«
    »Ich glaube schon. Die Dinge sind mir mittlerweile klarer geworden.«
    »Das heißt?«
    »Kein Prozess. Eine Einigung wäre mir lieber. Ich wünsche mir, dass wir einen Vergleich aushandeln.«
    Diesmal hatte Wagner-Leblond größte Mühe, seine Verwunderung zu verhehlen. Er klappte den Kragen hoch, strich die Manteltaschen glatt und blickte mir dann unverwandt in die Augen.
    »Ich werde Ihnen jetzt etwas sagen, was mir meine Rolle in dieser Angelegenheit und Ihnen gegenüber eigentlich verbieten sollte: Ich denke, mit dieser

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