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Der Fall Sneijder

Der Fall Sneijder

Titel: Der Fall Sneijder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Paul Dubois
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sein.«
    »Er ist Psychoanalytiker.«
    Es war eigenartig festzustellen, dass die Weltordnung durch winzige Details in der Kleidung plötzlich ins Wanken geraten konnte. Dasselbe galt für die Wahrheit, die ebenfalls sehr unbequem sein konnte, sobald sie nicht mehr dem vertrauten Schema entsprach. So machte die Tatsache, dass ich ausnahmsweise einmal eine Krawatte trug, aus mir einen Ehebrecher. Aber ich muss zugeben, die Tatsache, dass ich mit der Hündin eines Psychoanalytikers ausging, war schon eine unerträgliche Provokation.
    »Ich warne dich, wir müssen uns unterhalten, Paul. Ja, wir müssen uns unterhalten.«
    Seit einiger Zeit hatte Anna sich angewöhnt, ihren letzten Satz zu wiederholen, eine seltsame Echomanie zu praktizieren. Sie verlangte, dass wir uns unterhielten, aber das Problem war, dass ich ihr nichts zu sagen und auch nichts entgegenzuhalten hatte. Bestenfalls konnte ich ihr zuhören, wie sie mir aufzählte, was alles nicht mehr möglich war und keinem normalen Leben mehr entsprach. Dass ich mir keine Mühe mehr gab und mich darauf versteifte, eingeschlossen in die Welt der Fahrstuhlkabinen mit der Asche meiner Tochter zu leben. Dass sie nicht mehr konnte. Dass wir eine Entscheidung fällen mussten. Dass sie eine Beziehung führte, nun ja, sich regelmäßig mit jemandem traf. Dass sie sich vögeln ließ, genau, aber richtig vögeln. Dass dies im Übrigen auch der Grund war, warum wir zweimal die Woche Hühnchen aßen. Und dass sie nun genug hatte von den Hühnchen, den Hunden und dem ganzen Rest. Dass eine Scheidung unumgänglich sei, dass sie das Haus behalten würde, das Auto und die Hälfte meines Bankkontos.
    Dem gab es nichts entgegenzuhalten oder hinzuzufügen. Jeder Satz enthielt sein Stückchen Wahrheit oder eine Annäherung an sie. Diese Art Unterhaltung fand typischerweise sonntags statt, wenn die Arbeit einen nicht mehr ablenken konnte und es nichts zu tun gab, als zu Hause zu bleiben, in einem Haus, das plötzlich zu klein wurde, um all die ranzigen Erinnerungen und den aufgewärmten Groll zu fassen. Dann reichte ein Krawattenknoten, ein Lederband an den Boots oder eine unvorhergesehene Verabredung, um den Himmel zum Einsturz zu bringen, Sätze flogen und am Ende prasselten Geständnisse auf einen nieder, die man bereits bis in den Wortlaut hinein kannte. Das Scheitern und dasWochenende gehören zusammen. Und das Leben ist voller Sonntage.
    Mir juckten die Handgelenke und der Hals. Ich brauchte die Kortisoncreme. Immer häufiger fragte ich mich, ob der Dermatologe sich nicht geirrt hatte und meine Allergie nicht durch all das hervorgerufen wird, was in diesem Haus lebte, einem Haus voll heimtückischer Sirenen, die jederzeit bereit waren zuzuschnappen. Das Kortison mochte zwar die gemutmaßte Hautreaktion auf die Hundehaare lindern, aber ich bezweifelte, dass seine entzündungshemmende Wirkung etwas gegen den durch eine Pythia ausgelösten Juckreiz vermochte, die nachts vor sich hin kaute und tagsüber meinen Niedergang prophezeite.
    Dabei brauchte man kein Orakel zu sein, um zu sehen, dass ich im Fall begriffen war. Und zwar seit Langem. Schon lange vor dem Unfall, ja schon lange vor der Geburt dieser beiden Steuerhirnis, die als meine Erben herhalten mussten. Alles hatte mit dem Tag begonnen, an dem Anna sich geweigert hatte, Marie zu Hause zu empfangen. An dem sie ihr unsere Tür verschlossen hatte, ohne dass ich den Mut gefunden hätte, sie daran zu hindern. Da hatte alles angefangen. Ich habe noch genau den ungläubigen Gesichtsausdruck meines Vaters in Erinnerung, als ich ihm die Neuigkeiten mitteilte.
    »Und nun?«
    Ich hatte nichts geantwortet. Mein Schweigen war ein Offenbarungseid. Mein Vater senkte den Blick: Von dem Tag an wusste er, dass sein Sohn ein Feigling war.
    Es klingelte an der Tür: der Taxifahrer, den Bréguet bestellt hatte. Ich nahm meine Sachen und folgte dem Fahrer,der mir die hintere Tür öffnete, obwohl dies unüblich war. Ich wusste, dass Anna hinter dem Fenster stand. Ich konnte mir vorstellen, wie ungläubig und wütend sie aussah, während sie mir nachblickte; aber auch weniger selbstsicher als sonst.
    Als er das Auto sah, trat Bréguet trotz der Kälte vor die Tür, um mich zu begrüßen. Seine Aufregung stand im krassen Gegensatz zu der Seelenruhe seines Hundes, der auf dem Wohnzimmerteppich ausgestreckt lag. Die ersten Worte, die Bréguet an mich richtete, waren: »Sie sehen blendend aus.« Und gleich darauf: »Das wird ein großer Tag.« Auf den

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