Der Fall
versuchte, musste sie ständig in allen Einzelheiten an den Vorfall zurückdenken. Als sie einem Taxi winkte, ging ihr immer wieder dieselbe Frage durch den Kopf. Wie hatte sie das tun können? Sie wollte es auf irgendeine äußere Ursache schieben: Wut. Einsamkeit. Frustration. Doch als ihr Taxi nach Norden fuhr, vorbei am Carmine’s und am Ollie’s und an John’s Pizzeria und jedem anderen Lokal, das sie an ihren Mann erinnerte, gestand sich Sara schließlich die Wahrheit über ihr spätabendliches Erlebnis ein: Sie hatte es genossen, als es passiert war. Und der einzige Mensch, dem sie es zum Vorwurf machen konnte, war sie selbst.
Als sie nach Hause kam, gab es nur einen Menschen, den sie sehen wollte – und als sie das Schlafzimmer betrat, war er zu ihrer Überraschung auf ihrem Bett. Jared lag in voller Kleidung auf der Tagesdecke und schlief. Sara streifte sich die Schuhe gerade so laut von den Füßen, dass er davon aufwachte.
»Entschuldige«, sagte Jared und rieb sich die Augen. »Ich hatte vorher angerufen, aber du warst nicht zu Hause. Wenn du nichts dagegen hast, wäre ich dir sehr dankbar, wenn ich heute hier schlafen könnte.«
Sara sah ihren Mann an. An jedem anderen Abend hätte es deswegen Streit gegeben. Aber an diesem sagte sie nur: »Sicher. Wenn du möchtest.«
Als Jared am nächsten Morgen aufwachte, spielte er mit dem Gedanken, nicht in die Kanzlei zu gehen. Er wusste, er hatte noch ein gewaltiges Arbeitspensum zu bewältigen, wenn er gut vorbereitet in die Verhandlung gehen wollte, aber er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren: Um seine Batterien wieder aufzuladen, wäre es das Beste, sich einmal einen Tag ganz ohne Stress und Hektik zu gönnen. Als er sich jedoch umdrehte und sah, dass Sara bereits zur Arbeit gegangen war, schlug er die Decke zurück und sprang aus dem Bett. Egal, wie müde er war, egal, wie erschöpft – sie durfte auf keinen Fall gewinnen!
Eine Stunde später traf Jared mit der Aktentasche in der Hand in seinem Büro ein. Als er mit dem Lift in den vierundvierzigsten Stock hochfuhr, spielte er mit dem Gedanken, im Fitnessraum auf der Tretmühle zu laufen. Das war immer das Beste, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Doch wieder war seine Angst stärker als das Bedürfnis, abzuschalten und auszuspannen. Bis er die Tür seines Büros öffnete, gingen ihm bereits alle möglichen Prozessstrategien durch den Kopf.
»Sie kommen aber spät«, sagte jemand, als Jared eintrat.
Jared fuhr zusammen. Es war Rafferty.
»Für jemanden, der ohnehin im Hintertreffen ist, machen Sie sich äußerst spät an die Arbeit.«
Rafferty lehnte sich in Jareds Ledersessel zurück.
»Es ist noch nicht mal acht.«
»Na und! Ihre Frau war schon um Viertel nach sieben im Büro.«
Jared stellte seine Aktentasche auf den Schreibtisch. »Gibt es sonst noch etwas, das Sie von mir wollen, oder sind Sie hier, um mir nach dem gestrigen Debakel erneut zu drohen?«
»Ich brauche Ihnen nicht mehr zu drohen, Jared. Sie sind sich über die Folgen im Klaren.« Rafferty legte die Hand auf einen verschlossenen Umschlag und schob ihn über Jareds Schreibtisch. »Ich bin nur hier, um Ihnen zu zeigen, was sich sonst noch alles tut, während Sie unaufhaltsam einer Katastrophe entgegensteuern.«
Jared öffnete den Umschlag, entnahm ihm ein paar Fotos und blätterte sie durch. Auf dem ersten waren Sara und Moore zu sehen, wie sie sich unterhielten. Auf dem letzten küssten sie sich. Jared wurde kreideweiß.
»Und Sie haben sich gewundert, warum Ihre Frau so viel Zeit im Büro verbringt«, sagte Rafferty.
»Wer hat diese Aufnahmen gemacht?« Jared starrte immer noch wie gebannt auf die Fotos. »Und wann?«
»Gestern Abend. Ein Mitarbeiter im Büro Ihrer Frau hat sie für uns gemacht. Er hat gute Arbeit geleistet, finden Sie nicht?«
Jared eilte zur Tür.
»Wo wollen Sie hin?«, fragte Rafferty.
Jared stürmte wortlos aus dem Raum.
Ohne sich um das Schild mit der Aufforderung, sich in die Besucherliste einzutragen, zu kümmern, preschte Jared durch den Metalldetektor und an dem Sicherheitsbeamten auf Saras Etage vorbei. »Hey, kommen Sie sofort zurück!«, rief ihm der Mann hinterher. »Besucher müssen sich eintragen!«
Jared stürmte jedoch weiter mit langen Schritten den Flur hinunter und rief lauthals: »Ich suche Sara Tate. Wo ist sie?« Eine Sekretärin deutete den Gang hinunter.
Kurz bevor Jared Guff erreichte, der an seinem Schreibtisch vor Saras Büro saß, hatte ihn der
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