Der Fall
Sie ging so leicht auf, dass sie Sara ganz entgegenkam. Sie warf sie auf den Boden und zog die nächste heraus. Und die nächste. Und die nächste. Socken, Unterwäsche, Unterhemden, alles weg. »Du kannst doch nicht einfach weggehen!«, schrie sie und knallte die Schubladen wieder zu. »Nicht jetzt.« Sie hätte nie gedacht, dass es so kommen könnte. Denn im Moment hätte es kaum besser für sie laufen können. Alles sprach zu ihren Gunsten: die Recherchen, die Beweise, die Anträge und sogar der Richter. Eigentlich hätte nichts mehr schief gehen können. Eigentlich hätte alles klappen müssen. Doch als sie nun das Gesicht in den Händen vergrub, wurde ihr bewusst, dass es am Ende, wenn alles gesagt und getan war, kein strahlender Sieg für sie sein würde.
Jared schleppte seinen zum Platzen vollen Kleidersack durch die grellweißen Flure des New York Hospital. Er nahm den Aufzug in den zehnten Stock hinauf und suchte Zimmer 206. Er stellte seine Sachen vor der Tür ab und klopfte.
»Sieh mal einer an, wer mich da doch noch besuchen kommt«, sagte Pop, als Jared das Krankenzimmer betrat. »Was führt dich hierher? Außer deinem schlechten Gewissen, meine ich.«
»Könnte doch sein, dass ich einfach nur mal bei dir vorbeischauen wollte! Anrufe sind gut und schön, aber ein richtiger Besuch ist doch was anderes.«
»Jared, auf dieses Säuseln fallen vielleicht irgendwelche naiven Geschworenen herein, aber ich nehme es dir nicht ab. Du bist nur aus einem Grund hier: Entweder hat dich Sara hergeschickt, oder du hast Probleme.«
»Sag das nicht, Pop. Nachdem meine Eltern und meine Großmütter in Chicago leben, bist du der einzige Verwandte, den ich in New York habe.«
»Okay, du hast Probleme. Wie viel Geld brauchst du?«
»Ich brauche kein Geld.« Jared zog sich einen Stuhl an Pops Bett heran. »Warum erzählst du mir nicht, wie es dir geht? Wann darfst du wieder nach Hause?«
»Wenn es mir besser geht. Oder falls du meinem Arzt glauben willst: Wenn Sie mich wieder soweit haben, dass ich gehen kann, was zwischen zwei Wochen und einem Monat dauern dürfte. So – das hätten wir also abgehakt. Jetzt kannst du mir erzählen, was los ist.«
»Es gibt nichts zu erzählen.« Jared versuchte einen möglichst beiläufigen Ton anzuschlagen. »Sara und ich, wir haben momentan nur etwas Spannungen. Du weißt schon, wegen dieses Falls.«
»Der Fall Kozlow.«
»Ja, woher –«
»Glaubst du etwa, ich höre nicht zu, wenn meine Enkelin mir etwas erzählt? Meine Ohren sind vielleicht länger und haariger als deine, aber ihren Zweck erfüllen sie noch genauso gut. Und mir war von Anfang an klar, dass ihr euch bei diesem Fall ganz gewaltig in die Wolle kriegen würdet. Du und Sara, ihr seid auch so schon ehrgeizig genug – da braucht ihr nicht noch einen Prozess, um euch gegenseitig an die Gurgel zu gehen.«
»Es ist weniger der Prozess als das, was sich im Umfeld abspielt.«
»Was spielt sich sonst noch ab? Ist sie krank? Schwanger? Nehmt ihr endlich Vernunft an und kriegt ein Kind?«
»Nein, Pop, sie ist nicht schwanger.« Jared fummelte am Kabel des Notrufknopfs auf Pops Nachttisch herum. »Es ist nur so, dass es in letzter Zeit sehr gut für sie läuft.«
Pop sah Jared an und grinste. »Gefällt dir wohl gar nicht, dass sie mal besser ist als du – und das auch noch auf deinem Spezialgebiet.«
»Nein, du verstehst das völlig falsch. Es geht um mehr als nur ums Gewinnen –«
»Machen wir uns doch nichts vor, Jared. Wenn du mir erzählst, es geht dir nicht ums Gewinnen, kann ich bestenfalls laut lachen. So lange ich dich kenne, warst du geradezu versessen darauf, Erfolg zu haben. Du warst der absolute Überflieger, während Sara sich kräftig abstrampeln musste. Und wenn es nun plötzlich mal andersherum läuft, merkst du, dass das ziemlich hart ist.«
»Ich verfolge damit nicht irgendwelche egoistischen Motive. Bei diesem Fall geht es um mehr.«
»Junge, du solltest dich wirklich mal reden hören! Wenn alles so ist, wie du mir eben erzählt hast, sieht es so aus, als würde Sara diesen Fall gewinnen – und das willst du nicht wahrhaben. Du magst vielleicht ein Spitzenanwalt sein, aber diesmal hast du gegen Sara keine Chance. Du hast also folgende Möglichkeiten: Entweder du machst weiter wie bisher und gehst mit fliegenden Fahnen unter, oder du gibst auf und gestehst deine Niederlage ein, was du aber natürlich nie tun wirst, oder du einigst dich mit ihr auf einen Kompromiss, mit dem ihr beide leben
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