Der Fall
ihr mit dem Ordner.
»Wenn du Jared etwas davon erzählst, Sara, und wenn er auf der anderen Seite steht, geht für uns der Schuss nach hinten los. Dann sitzen wir da und denken, alles läuft bestens, und plötzlich, aus heiterem Himmel, BUMM!« Das Geräusch, das Moore machte, ließ Sara zusammenfahren. »Und ehe du dich’s versiehst, sind wir erledigt.« Die Stille, die sich nun über den Raum legte, verlieh seinem Argument zusätzliches Gewicht.
»Aber wenn Jared nichts weiß –«
»Es kann ihm auf keinen Fall etwas passieren, Sara. Ich verlange wirklich nicht viel von dir. Du brauchst ihn keineswegs zu belügen; ich möchte nur, dass du den Mund hältst. Andernfalls laufen wir Gefahr, dass unsere ganze Mühe umsonst war.«
Sara wandte sich Guff zu. »Was meinen Sie?«
»Ich weiß nicht. Ich kann Conrads Standpunkt zwar verstehen, aber zugleich finde ich auch, sobald Sie an Jared zu zweifeln beginnen, gibt es kein Zurück mehr.«
»Jetzt machen Sie doch nicht gleich wieder so’ ein Drama daraus«, sagte Moore. »Nur ein kleines Geheimnis – nicht mehr. Also, was sagst du?«
»Ich weiß nicht recht«, sagte Sara. »Mal sehen, wie es heute Abend läuft.«
Eine halbe Stunde nachdem Sara nach Hause gekommen war, saß sie vor dem Computer und starrte auf den leeren Bildschirm. Als sie die Wohnung betreten hatte, hatte sie damit gerechnet, ihren Mann in der Küche beim Kochen oder im Schlafzimmer am Computer vorzufinden. Doch zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass keines von beiden zutraf. Fest entschlossen, Jareds Abwesenheit auszunutzen, schlüpfte sie rasch aus ihrem Kostüm und in ein T-Shirt und eine Trainingshose und zog sich einen Stuhl an den Computer. Jetzt ist der Moment der Entscheidung gekommen, dachte sie. Bevor er nach Hause kommt.
Sie wog die einzelnen Argumente sehr sorgfältig gegeneinander ab und versuchte, zu einer Lösung zu kommen. Tief in ihrem Innern wollte sie Jared glauben. Im Grunde genommen hatte sie gar keine andere Wahl. Doch je länger sie allein in der stillen Wohnung saß und je öfter sie auf ihre Uhr sah und sich fragte, wo Jared steckte, desto mehr begann sie an ihm zu zweifeln. Und je mehr sie an ihm zu zweifeln begann, desto einleuchtender erschienen ihr Conrads Argumente. Sie musste Jared nicht einmal belügen – sie brauchte ihm nur nichts zu sagen.
Als sie merkte, dass sie sich immer weiter in Rationalisierungen verstrickte, überlegte sie, was Pop in dieser Situation täte. Er würde die Wahrheit sagen, dachte sie. Und Jareds Eltern? Sie würden lügen. Und ihre eigenen Eltern? Was täten sie? Sara ging zur Kommode, griff nach dem Foto ihrer Eltern und setzte sich aufs Bett. Es war ein altes Foto, aufgenommen an dem Tag, an dem Sara die Aufnahmebestätigung fürs Hunter College erhalten hatte. Ihr Vater war so stolz gewesen, dass er, als sie diesen Anlass in dem kleinen Restaurant um die Ecke feierten, das Bestätigungsschreiben des Colleges mitnahm und dem Kellner zeigte. Dann machte er ein Foto von Sara mit dem Schreiben. Und von seiner Frau mit dem Schreiben. Und sogar vom Kellner mit dem Schreiben. Schließlich nahm Sara die Kamera und sagte: »Wie wär’s, wenn auf dem nächsten auch mal ein paar Leute drauf sind?« Und blitzschnell hatte Saras Vater den Arm um ihre Mutter geschlungen und ihr voller Zuversicht die Hand auf die Schulter gelegt. Bei drei hatte Sara auf den Auslöser gedrückt.
Inzwischen, mehr als zehn Jahre später, hatte Sara dieses Bild sehr lieb gewonnen. Nicht, weil es besonders gut war, und nicht, weil ihre Eltern so schön darauf aussahen. Sie mochte es, weil sie, jedes Mal wenn sie es ansah, an diesen Tag erinnert wurde – an das Bestätigungsschreiben des Colleges, an den Stolz ihres Vaters, an den Kellner, an das Essen und, was das wichtigste war, an die Menschen, die dabei waren.
Das Klicken der Türschlösser riss Sara aus ihren Erinnerungen. Endlich kam Jared nach Hause. Sie strich mit dem Daumen über das Glas über dem Foto ihrer Eltern. Zeit, sich von den Lektionen des Todes abzuwenden und denen des Lebens zuzuhören.
Als Jared in den Raum stürmte, konnte sie genau sagen, dass er sich bereits eine Entschuldigung zurechtgelegt hatte. Sicher würde er sofort an den Computer stürzen, um zu schreiben, warum er so spät nach Hause kam und wo er gewesen war und warum sie ihm wegen Victor Stockwell glauben musste. Doch bevor er auch nur das Bett erreicht hatte, stellte sich ihm Sara in den Weg. Jared nagte an seiner
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