Der Fall
seine Hand auf Saras Schulter. »Er kommt bestimmt durch! Sie werden sehen.«
»Es passiert immer mit einem Anruf«, sagte Sara.
»Wie bitte?«
»Alle denken, der Tod kommt, wenn man, umgeben von den Menschen, die man liebt, im Krankenhaus ist. Aber der Tod ist viel willkürlicher und chaotischer. Er kommt nicht gemächlich, in einem Moment der Stille. Nein, er springt einen an – genau in dem Moment, in dem man am wenigsten darauf gefasst ist.«
»Haben Sie es bei Ihren Eltern auch so erfahren? Am Telefon?«
»Wenn es wenigstens so gewesen wäre! In meinem Fall beschlossen die reizenden Leute im Krankenhaus, mir eine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter zu hinterlassen. Stellen Sie sich das mal vor – Sie hören die eingegangenen Nachrichten ab, und eine davon lautet: ›Tut uns leid. Ihre Eltern sind tot. Schlafen Sie gut.‹«
»Und das haben Sie abgehört, als Sie zur Tür reinkamen?«
»Ich hatte für die Abschlussprüfung gelernt und kam nach Hause. Dieses blinkende kleine Licht werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Auch die Nachricht weiß ich heute noch auswendig: ›Hallo, hier ist Faye Donoghue. Ich bin Patientenbetreuerin des Norwalk Hospital in Connecticut. Wir müssen dringend mit einem Familienangehörigen von Mr. Robert Tate und Mrs. Victoria Tate sprechen. Es ist ein Notfalls Sie hatte einen leichten Massachusetts-Akzent, aber ansonsten war ihre Stimme vollkommen emotionslos.«
»Mehr hat sie nicht gesagt? Sie hat nicht gesagt, dass sie tot waren?«
»Das war nicht nötig. Ich wusste es in dem Moment, in dem ich es hörte. Für so etwas hat man einen Riecher. Als ich nach Hause kam, machte ich den Anrufbeantworter an, und weil ich kalte Füße hatte, ging ich in die Küche, um mir etwas Cider warm zu machen. Zuerst kam die Nachricht eines Kommilitonen, der sich mit mir aufs Examen vorbereiten wollte; dann eine Nachricht von Jared, der, obwohl er mich kaum kannte, immer noch meinen Grundriss über die Zivilprozessordnung haben wollte; und dann die Nachricht von Faye Donoghue – ›Es ist ein Notfall‹. Das ist, was ich ständig hörte: Es ist ein Notfall, es ist, es ist. Ich hab’s dreimal abgespielt, um sicherzugehen, dass ich mich nicht verhört hatte.«
Aus Angst, etwas Falsches zu sagen, blieb Guff still. Schließlich sagte er: »Das tut mir aufrichtig Leid.«
»Ist doch nicht Ihre Schuld. Ich habe daraus nur gelernt, dass es so etwas wie ein romantisches Sterben nicht gibt – und dass man sich immer auf das Schlimmste gefasst machen muss. Das ist die eigentliche Lektion. Solange ich sie beherzige, werde ich nicht überrascht sein, wenn es tatsächlich einmal soweit ist.«
»Aber so kann man doch nicht leben!«
»Es ist nicht so, dass ich eine Wahl habe, Guff – so ist es einfach bei mir. Jedes Mal wenn ich denke, ich bin über den Berg, bekomme ich eins aufs Dach. Kaum begann ich mich über diesen Job zu freuen, erfuhr ich von den Budgetkürzungen. Kaum begann ich mich über meinen Fall zu freuen, erfuhr ich, dass mein Mann die Gegenseite vertritt. Kaum begann ich mich darauf zu freuen, Victor Stockwell auf den Zahn zu fühlen, stellte sich heraus, dass er mir auf den Zahn fühlt. Und schließlich heute – kaum habe ich das mit der Grand Jury hinter mir, rufen sie wegen Pop an. Und dass das Ganze auch noch passiert ist, kurz nachdem dieser Kerl in meinem Büro aufgekreuzt ist –«
»Sara, ich weiß zwar, was Sie denken, aber ich glaube nicht, dass Pops Unfall etwas mit diesem Kerl zu tun hat.«
Sara sah Guff skeptisch an.
»Damit will ich nicht behaupten, dass auf keinen Fall ein Zusammenhang besteht. Aber Sie sollten auch nicht immer gleich das Schlimmste annehmen. Sobald Pop operiert worden ist, werden wir ja hören, was passiert ist.«
Zehn Minuten verstrichen, bevor ein Arzt in den Warteraum kam. »Sind Sie Ms. Tate?«
»Ja.« Sara sprang auf. »Wie geht es ihm?«
»Er ist eine Treppe hinuntergefallen«, erklärte ihr der Arzt. »Er hat einen Beckenbruch – deshalb mussten wir ihn operieren – und eine Colles-Fraktur.«
»Eine was?«, fragte Sara.
»Ein Bruch im distalen Radius. Im Unterarm. Das ist vermutlich passiert, als er den Sturz abzufangen versuchte. Außerdem hat er eine Kontusion an der Stirn. Aber das ist nichts weiter als eine Beule.«
»Wird er wieder ganz gesund?«
»In Anbetracht seines Alters ist sein Zustand erstaunlich gut. Er wird eine Weile liegen müssen, aber die Operation verlief ohne Komplikationen.«
»Wann können wir ihn
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