Der Fall
sehen?«, fragte Sara.
»Im Moment liegt er noch im Aufwachzimmer. Erkundigen Sie sich doch schon mal, wo sein Zimmer ist. Dort wird er im Lauf der nächsten Stunde hingebracht.«
Zwanzig Minuten später wartete Sara ungeduldig im Krankenzimmer ihres Großvaters. Sie schüttelte seine Kissen auf, ordnete die Blumen, die sie mitgebracht hatte, und vergewisserte sich, dass das Fernsehgerät funktionierte. Schließlich ging die Tür auf, und zwei Krankenpfleger schoben Pop auf einer fahrbaren Bahre in den Raum. Er sah verheerend aus: Sein Gesicht war fahl, sein Arm lag im Gips, und auf der rechten Stirnhälfte hatte er einen dicken Verband. Bei seinem Anblick kamen Sara die Tränen.
»Pop, wie geht’s dir?«, stammelte sie.
»Alice?«, fragte er mit brüchiger Stimme. Seine Augen waren immer noch geschlossen.
»Pop, ich bin’s, Sara.«
»Sara?« Verwirrt blinzelnd schlug Pop die Augen auf. »Sara. Sara, du bist hier! Wie geht’s dir?«
»Bestens.« Sie wischte sich lachend die Augen. »Und dir?«
»Keine Ahnung. Ich spüre überhaupt nichts.«
»Das ist ganz normal, Pop. Mach dir da mal keine Sorgen. Erzähl mir nur, was passiert ist. Hat dich jemand gestoßen?«
Er schüttelte den Kopf, als ihn die Pfleger von der Bahre aufs Bett hoben. »Ich bin gestolpert.«
»Hat dich wirklich niemand gestoßen?«, fragte Sara.
»Gestoßen?« Pop atmete schwer, und das Sprechen bereitete ihm große Mühe. »Ich bin … nach dem Mittagessen die Treppe zur U-Bahn runter … Ich höre die Bahn einfahren … dann stürmen die Leute plötzlich los … um die U-Bahn noch zu erwischen. Jemand rempelt mich ziemlich fest an … ich falle auf den Beton. Immer … in New York ist alles ein Kampf.«
Sara sah Guff an. Sie versuchte abzuschätzen, wie er auf die Geschichte reagierte.
»Haben Sie den Kerl, der Sie angerempelt hat, gesehen?«, fragte Guff.
Wieder schüttelte Pop den Kopf. »Ich habe das Ganze … gar nicht richtig mitbekommen.«
In diesem Moment ging die Tür auf, und Jared kam herein. »Wie geht es ihm?«, stieß er hervor und eilte auf Sara zu.
Sara kamen wieder die Tränen, als sie ihren Mann in die Arme schloss. »Er ist soweit ganz okay.« Bei dem Gedanken an das, was der Fremde in ihrem Büro gesagt hatte, drückte sie Jared noch fester an sich. »Er wird wieder ganz gesund.«
»Wie konnte das nur passieren, Pop?«, sagte Jared. »Ich habe es eben erfahren.«
Pop streckte den Arm aus und drückte Jareds Hand ganz fest. Jared nickte aufmunternd. Er versuchte zwar, sich nichts anmerken zu lassen, aber er musste ständig daran denken, dass es eine Warnung von Rafferty war.
»Keine Angst, wir sind ja bei dir«, sagte Sara, als sie Pops verängstigten Gesichtsausdruck bemerkte. »Wir werden dafür sorgen, dass du –« Das Telefon auf dem Nachttisch begann zu läuten.
»Wahrscheinlich ist es der Chef der städtischen Verkehrsbetriebe, der sich entschuldigen will«, sagte Guff, als Sara den Hörer abnahm.
»Hallo.«
»Hi, Sara! Ich wollte nur mal hören, wie es Ihrem Großvater geht.«
»Wer ist am Apparat?«
»Haben Sie mich so schnell schon wieder vergessen? Wir haben uns doch erst vor ein paar Stunden kennengelernt. Warum befolgen Sie eigentlich nicht meinen Rat? Hören Sie auf, Nachforschungen über mich anzustellen, und kümmern Sie sich um Ihren Fall.«
»Ich wusste, dass Sie’s waren.«
»Ich?«, fragte er scheinheilig. »In der U-Bahn herrscht ziemliches Gedränge. Das ist nicht der richtige Ort für einen alten Mann in einer dunkelblauen Jacke und zerknitterten Khakihosen. Wenn man da nicht aufpasst, kann einem alles Mögliche passieren.«
»Sagen Sie mir, wa …« Bevor Sara den Satz zu Ende sprechen konnte, hörte sie ein Klicken. Er hatte aufgelegt. Um so zu tun, als führte sie das Gespräch fort, fügte sie hinzu: »Gut. Gut. Kein Problem. Und vielen Dank für Ihre Hilfe, Herr Doktor.« Als sie auflegte, merkte sie, dass alle sie ansahen. »Das war Pops Arzt«, sagte sie deshalb.
Jared kniff argwöhnisch die Augen zusammen. »Ist irgendwas?«
»Ja, das heißt, nein. Der Doktor wollte mich nur darauf aufmerksam machen, dass es unter Umständen schlechter werden kann, bevor es besser wird.«
Um elf Uhr abends kehrten Sara und Jared nach Hause zurück. Nachdem Sara ihren Mantel in den Schrank gehängt hatte, ging sie schnurstracks ins Schlafzimmer. Jared folgte ihr.
»Wenn man bedenkt, dass er gerade aus dem OP kam, macht er gar keinen so schlechten Eindruck«, sagte Jared, als
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